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Mai 1968, Machos und ReaktionäreSie haben uns den Frühling gestohlen

In Frankreich gedenkt man der 68er-Revolte mit einer gewissen Zärtlichkeit. Die Rechte hat sich indes ihres Vokabulars bedient.

Corinne Rey, alias Coco, zeichnet für das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ und diesmal auch exklusiv für die taz Illustration: Coco

Vor Kurzem haben wir das Jubiläum der „Ehe für alle“ gefeiert. Seit nunmehr fünf Jahren ist gleichgeschlechtlichen Paaren Heirat und Adoption erlaubt. Die Proteste gegen das Gesetzesvorhaben gingen damals über Monate; der Widerstand war heftig und gewalttätig. Es gab nicht wiedergutzumachende Einlassungen, Akte der Gewalt: Nach Verabschiedung des Gesetzes haben homophobe Übergriffe in Frankreich spürbar zugenommen, das haben Verbände nachgewiesen. Erst wurden die Dinge sagbar, dann folgten die Taten.

Der Widerstand organisierte sich in der „Manif pour tous“, der Demo für alle. Diese Leute haben, das kann man sagen, eine Schlacht verloren. Eines aber ist sicher: Den Krieg der Worte haben die Reaktionären gewonnen. Damals verfolgte ich bestürzt, wie sich katholische Aktivisten der „Manif pour tous“ den Wörtersteinbruch der 68er aneigneten, ihn verdrehten und in Geiselhaft nahmen.

Was erzählt er uns heute, dieser Wortschatz, 50 Jahre später? Frühling. Die Linke in der Revolte. Eine Jugend unter de Gaulle, die sich langweilt. Arbeiter in Aufruhr. Frauen, die sich für ihre Kämpfe rüsten. Aber ach, der Mai 68 geronn auch zu einer Reihe von Parolen, die heute abgedroschen klingen, so oft sind sie wiederholt worden; als hätte man sie überbeansprucht: „Unter den Steinen der Sand“ – „Der Himmel ist rot“ – „Euch die Macht, uns die Nacht“ – „Arbeitet niemals“.

In Frankreich gedenkt man des Mai 68 mit einer gewissen Zärtlichkeit. Die Proteste erscheinen wie eine verpasste Revolution, die die Geschichte auf den Kopf hätte stellen können. Das wissen die Reaktionäre. Also haben sie sich der Schlagworte dieses schönen Monats bedient, sie haben seine Gimmicks, seine Symbolik ausgeschlachtet. Und den Rest haben sie auf den Müllhaufen geworfen.

Johanna Luyssen

Johanna Luyssen lebt seit 2017 in Berlin und arbeitet als Deutschland-Korrespondentin für die französische Tageszeitung Libération. Sie ist Autorin des Buches „Les 30 féministes que personne n'a vus venir“

Gestohlene Worte

Und was haben sie gemacht, damit die Welt von ihrer Abneigung gegen die Ehe für alle erfährt? Sie stohlen die Worte. Sie haben sich als Manif, als Demo, bezeichnet – mit dem einzigen Ziel, einem Teil der französischen Bevölkerung die Gleichheit vor dem Gesetz vorzuenthalten. Demo: Das ist kein leeres Wort, es bedeutet etwas. Es ist ein Wort aus dem Fundus der Linken, der Arbeiterkämpfe, der Menschen, die gegen die Ungleichheit und für den Fortschritt kämpfen. Demos – und als Französin bin ich stolz darauf, an einigen teilgenommen zu haben – sind gemeinschaftliche Märsche, um Rechte einzufordern. Mehr Gleichheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Toleranz. Diese Demo war angeblich „für alle“. Was aber in aller Härte hieß: „gegen einige“.

Sie hätten es bei diesem Raub belassen können. Aber die Gelegenheit war ach zu schön.

Kooperation mit „Libération“

Die französische Tageszeitung Libération und die taz machen wieder gemeinsame Sache. Zum Jahrestag der „Nacht der Barrikaden“ am 10. Mai 1968 haben Libération-Autor*innen auch für die taz geschrieben und von ihren Eindrücken und Erlebnissen erzählt.

Die Ökologie war fundamentaler Bestandteil der Proteste von 68; deswegen haben sie auch diesen Begriff gekapert. Sie sprechen von „menschlicher Ökologie“, um Frauen zu verbieten, über ihren Körper zu bestimmen. Dann haben sie sich am Frühling selbst vergriffen: Radikale rechtskatholische Blogger haben sich „Französischer Frühling“ genannt – wie ein ranziger Abklatsch des Prager Frühlings. Und damit nicht genug – heutzutage bezeichnen sich die islamophoben Laizisten, deren liebster Zeitvertreib darin besteht, in diversen Medien die Muslime Frankreichs zu bedrohen, als „Republikanischer Frühling“. So sieht er aus, der Mittelfinger, den sie gleichzeitig den 68ern und dem Arabischen Frühling entgegenstrecken.

Diebe unter den Alt-68ern

Es sind nicht nur sie. Die Diebe des Frühlings findet man auch unter den Alt-68ern. Eine lange Liste. Im Mai 1986, dem perfekten Spiegelbild von 68, klagte der Schriftsteller Guy Hocquen­ghem all jene an, die die Mao-Bibel zur Seite gelegt hatten, um dem Rotary-Club beitreten zu dürfen: die André Glucksmanns, die Alain Finkielkrauts, die Bernard-Henri Lévys, die Olivier Rolins, die Pascal Bruckners. Ihre Herkunft ist vielfältig, ihre Lebenswege sind verschlungen, aber im Grunde sind alle in die gleiche Richtung marschiert. Sie sind von der Linken zu Sarkozy abgewandert, vom Antiimperialismus zur Unterstützung der US-amerikanischen Invasion im Irak 2003, von der proletarischen Linken zum Häppchen-Büffet in der Villa Medici. Die Liste der Verleugnungen ist lang.

Im Mai werden wir Gelegenheit haben, einen Film zu sehen, den der Regisseur Romain Goupil mit seinem Freund Daniel Cohn-Bendit gedreht hat; vor allem herausstechen wird ein Stargast. Trommelwirbel: Emmanuel Macron. Denn natürlich sind auch die von der Straße zu „En marche“ gewechselt. Und da sind sie, die alten Helden der Linken, die jetzt als nützliche Idioten der macronistischen Rechten herhalten, dümmlich beseelt vor einem Präsidenten sitzend, den sie „Emmanuel“ nennen und mit dem sie offenen Herzens über „flexible Sicherheitsmaßnahmen“ sprechen. Als die Heuchler, die sie sind, vergessen sie ihre Vergangenheit. Sie vergessen, dass die Streiks, die sie vor 50 Jahren herbeisehnten, heute unter den Schlägen der Ordnungskräfte zusammenbrechen würden.

Diese Männer – und es sind fast ausschließlich Männer – haben gleichzeitig alles, was ihnen nicht gleicht, ignoriert und abgewürgt. Der Mai 68 war eine Revolution von Männern, weiß, cis und hetero, gemacht für Männer, weiß, cis und hetero. Als die Historikerin Michelle Perrot 1973 versuchte, einen Universitätskurs über die Geschichte der Frauen abzuhalten, wurde sie von linken Studenten niedergebuht und verspottet. Sie glaubten, über die Sache der Frauen zu reden sei „eine Abkehr von der Revolution“.

Einwohner von Macholand

Guy Hocquenghem, der vom marxistischen Linken zum Schwulenaktivisten wurde, beschrieb die Anführer der linken Proteste als Einwohner von Macholand: „Diese Welt des kleinen Chefs, mythisch oder nicht, rückwärtsgewandt oder geheimnisumwittert, der mit seinem Stil hausieren geht, mit seiner Ethik, seiner Sentimentalität. Es ist keine Frau, nicht ein Abweichender unter euch.“ Es waren dominante Männchen, Sexisten, diese Revolutionäre des Mai 68, die noch heute den medialen, literarischen und intellektuellen Raum dominieren. Finkielkraut, Lévy, Cohn-Bendit. Sie haben sich nicht nur selbst nie hinterfragt. Sie bleiben auch passiv, bisweilen feindselig gegenüber den Kämpfen, die heute die ihrigen sein könnten: Ich denke an künstliche Befruchtung für alleinstehende Frauen und Lesben oder an die Verteidigung des Abtreibungsrechts. Kurzum, an die Kämpfe der Emanzipation.

Sie wollten nie hören, was die Feminist*innen sagten, wenn sie sagten: Das Private ist politisch. Sie wollten nicht hören, was sie nicht betraf.

In diesem schönen Monat Mai, angesichts all jener, die uns den Frühling geraubt haben – die Neo-Reaktionären, die Abtrünnigen, die Selbstgefälligen – werde ich mich zwingen, all jene zu feiern, die für uns kämpfen. Die Gewerkschafter*innen, die Fe­mi­nis­t*innen, die Linken, die Haus- und Hof­besetzer*innen. Ihnen gehört mein Dank.

Übersetzung: Frédéric Valin

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