Magersucht und Bulimie im Spitzensport: Kampf um Kilos
Essstörungen im Leistungssport gehören stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Betroffen sind nicht nur Frauen, und die Sterbequote ist relativ hoch.
W er die ARD-Dokumentation „Hungern für Gold“ noch nicht gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen. In der Sendung treten die ehemalige Turnerin Kim Bui und die Ex-Biathletin Miriam Gössner auf, die nach Heirat mit dem Alpinen Felix Neureuther den Namen des heutigen ARD-Experten trägt. Sie berichten über ihre Essstörungen während der Sportkarriere.
Bui erbrach sich nach Mahlzeiten regelmäßig, litt also an Bulimie, ein Krankheitsbild, das mit der drastischen Bezeichnung Fress- und Kotzsucht wohl besser beschrieben ist. Gössner wurde von Trainern unter Druck gesetzt, beständig Gewicht zu verlieren. Sie konnte erst nach einer schweren Verletzung aus dem Teufelskreis ausbrechen.
Die Doku offenbart, was immer schon ein offenes Geheimnis war: Dass sich Sportlerinnen und Sportler, vor allem im Skispringen, aber auch im Ausdauerbereich und fast allen Wertungssportarten (Rhythmische Sportgymnastik et cetera) bisweilen in kritische Bereiche hungern, nicht selten unter einen Body-Mass-Index von 15. Dass weibliche Leistungssportlerinnen oft jahrelang keine Periode haben. Dass von außen auf die Leichtgewichte eingewirkt wird, noch mehr Kilos zu verlieren. Dass Sportärzte manchmal zu spät reagieren. Dass Heranwachsende zu wenig geschützt werden.
Gewicht machen – das kennen eigentlich alle Sportler. Die Waage fungiert täglich als Scharfrichter über Wohl und Wehe. Das schlechte Gewissen ist beständiger Begleiter. Die einen kochen ab, wie es zum Beispiel bei den Boxern, Judoka oder Ringern heißt, sie verlieren Wasser vor Kämpfen, um noch in eine für sie günstigere Gewichtsklasse zu rutschen, andere schmuggeln Gewichte in Unterhose oder Po, um ihren BMI nach oben zu drücken.
Leben am Limit
Leistungssport, machen wir uns nichts vor, ist Extremismus. Der Körper wird an Limits getrieben, ausgereizt, was geht. Bahne Raabe, einst Ruderer des Deutschland-Achters und Olympiagoldmedaillengewinner von 1988, hat seinen Kaloriensteuerungsfimmel mit dem Leben bezahlt. Er starb 2001 an Magersucht.
Das zeigt zweierlei: Erstens sind nicht nur Sportlerinnen betroffen (siehe auch Sven Hannawald), zweitens verlaufen Essstörungen nicht selten letal. Zehn Prozent der schwer Betroffenen sterben. Zehn Prozent. Allein diese Zahl sollte wie ein Menetekel an der Wand jeder Umkleidekabine erscheinen, wo sich die Jugendlichen bereit machen für den Drill in der Halle oder auf Tartan. Sie werden traktiert für ein höheres Ziel, das ihnen zumeist von außen oktroyiert wird.
So langsam bricht etwas auf in der Sportszene – und zwar weltweit: Auch Formel-1-Pilot Valtteri Bottas, die französische Tennisspielerin Caroline Garcia und die Schweizer Biathletin Lena Häcki-Groß machten zuletzt öffentlich, von Essstörungen betroffen zu sein. „Ich habe mich körperlich und geistig krank trainiert“, bekannte Bottas im finnischen Fernsehen. Er habe sich damals vor allem von Brokkoli ernährt. „Es geriet außer Kontrolle und wurde zu einer Sucht.“
Auch nach der Karriere von Essstörung verfolgt
Was bei einem Motorsportler noch etwas kurios anmutet, wird er doch chauffiert im PS-starken Boliden, ist bei Ausdauerathletinnen ein sehr ernstes Problem, das die Essgewohnheiten auch nach der Karriere bestimmt. Die Krankheit bleibt ein düsterer Begleiter, der wie ein Schießhund über die Nahrungsaufnahme wacht. Dass Essen nicht nur zum Erhalt der Vitalfunktionen dient, sondern auch purer, wunderbarer Genuss sein kann, ein tägliches Glück, müssen die Betroffenen oft erst wieder lernen.
Der menschliche Körper ist, nun ja, nur dann frei (und gesund), wenn man seine Signale empfängt und das Streben nach Homöostase reguliert. Raubbau am eigenen Körper mag kurzfristige Erfolge möglich machen, langfristig bleiben die Schädigungen durch die Anorexia athletica. In der Öffentlichkeit werden in den kommenden Wochen wohl viele Trainer und Funktionäre auftreten, die Besserung geloben. Es sind nicht selten jene, die Hungerexzesse zum Wohle des Medaillenspiegels geduldet haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg