Männer-Debatte: Versagen ist keine Option
Mittelalte Männer fühlen sich in Politik und Wirtschaft von vermeintlichen Machern wie Friedrich Merz angezogen. Da hilft nur Frank Sinatra hören.
W ie viele Männer in meinem Alter gehe ich gerne joggen. Es ist das ideale Sport für den Ü40-Mann: Ich muss nicht mit Proteinshakes schlürfenden Muskelprotzen in den Fitnessstudios interagieren und mich auch nicht öffentlich blamieren, wenn ich keuchend auf einem Spielplatz einem Ball hinterherrenne.
Und wie viele Männer in meinem Alter höre ich beim Joggen gern Musik. In der Regel treiben mich – altersgerecht – Jay-Z oder Eminem zum Sprint an. Doch neulich nahm der Spotify-Algorithmus eine seltsamen Abstecher in die Vergangenheit: Aus den Kopfhörern drang auf einmal eine Stimme, die ich lange nicht gehört hatte. Und ich hielt mit verlorenem Blick mitten auf dem Trimm-dich-Pfad an. Keuchend.
Um meine Reaktion zu erklären, muss ich etwas über meine musikalische Erziehung erzählen: Ich bin in Italien geboren und aufgewachsen. Mein Vater war ein Vorkriegskind. Schon der Twist war ihm zu neu und zu aufregend. Die Musik, die aus unserem Plattenspieler ertönte, war entweder der Jazz der vierziger Jahre oder italienische Schlagermusik.
Und dann gab es die Stimme.
Als sie aus den Boxen erklang, sah ich meinen Vater andächtig aufhorchen – als würde diese Männerstimme, die gleichzeitig zart und rau klang, kräftig und zerbrechlich, direkt zu ihm sprechen. Nicht irgendeine Stimme, sondern „die“ Stimme, „The Voice“, Frank Sinatra. Für Männer wie meinen Vater war Sinatra mehr als eine Stimme. Für sie, die in den Trümmern der zerbombten Städte Europas aufgewachsen waren, verkörperte Sinatra ein anderes Ideal von Männlichkeit als ihre Väter und Großväter in Uniform. Er war kein Soldat (er wurde von der Armee wegen Hörproblemen ausgemustert), kein Cowboy à la John Wayne. Er war klein, schlank, elegant – mit langen, zarten Händen.
Heißblütiger Macker
Doch zugleich war er, Sohn italienischstämmiger Eltern, auch ein heißblütiger Macker, der sich gern mit anderen Schlägereien lieferte. Ein altmodischer „Padrone“, ein Herr des Hauses. Launisch war er auch: mal freundlich und großzügig, mal despotisch und zornig. Zu Hause bei seiner Familie war er aber selten – vor allem wegen der unzählige Affären.
Passend zum Image des sentimentalen Sängers neigte er zu stürmischen Beziehungen. Während seiner Trennung von der Schauspielerin Ava Gardner konnte man ihn auf den Straßen New Yorks sehen, wie er allein, betrunken in einem schwarzen Mantel mit hochgeklapptem Kragen von Bar zu Bar torkelte. Heute hätte ihn ein PR-Agent unter dem Arm gepackt und zu einer Rehaklinik gezerrt. Damals machten die Menschen auf der Straße einfach einen großen Bogen um ihn.
Denn sie wussten: Da läuft Frank Sinatra, ein schwacher, geschädigter Mann, der auf nahezu pathetische Art den harten Kerl spielt. Den „Hofdichter der einsamen Herzen“ nannte ihn der Schriftsteller Pete Hamill – ein lebendiges Denkmal für die Zerbrechlichkeit des Mannes.
Im Laufe der Zeit haben andere Künstler dieses Image perfektioniert. Über den unsicheren, verletzlichen Mann haben viele Liedermacher von Loudon Wainwright über Saul Williams bis zu Herbert Grönemeyer („Männer“) ehrlich und gefühlvoll gesungen. Aber Sinatra bleibt der OG – der „Original Grübler“.
Diese Stimme ertönte also auf dem Trimm-dich-Pfad aus meinen Kopfhörern. Es war kein Klassiker, kein „My Way“. Es war der Song „This Is All I Ask“: „Hübsche Mädchen, lauft etwas langsamer, wenn ihr an mir vorbeigeht; flüchtige Sonnenuntergänge, verweilt etwas länger am einsamen Meer; Kinder überall, wenn ihr einen Bösewicht erschießen wollt, erschießt mich.“Es ist eine mürrische Meditation über das Altern, voll von gespieltem Selbstmitleid. Die Kids würden sagen: ziemlich cringe. Aber es ist auch eine Art Manifest.
Sinatra nahm das Lied mit 50 Jahren für sein Album „September of My Years“ auf – ein Konzeptalbum über das Altern. Er widmete sich dem Thema mit Pathos und Ironie. Während um ihn herum der Vietnamkrieg, die Student:innenbewegung und die Beatles die Welt veränderten, seufzte der einst berühmteste Popsänger der Welt ins Mikrofon: „Dein Lied fängt erst an, während meines sich dem Ende zuneigt“.
Man stelle sich vor, ein heutiger Popstar um die 50 wie Jay-Z oder Eminem würde so etwas wagen. Ja, sie und ihre Kollegen haben es inzwischen gelernt, sich gegebenenfalls emotional zu entblößen, und sie schrecken nicht davor zurück, zu erzählen, wie schwer sie es hatten. Doch zumeist geht es in ihren Liedern darum, wie sie Schwierigkeiten überwunden haben und am Ende als Sieger dastanden.
Weiblichkeit und Männlichkeit sind eine Performance, schrieb die US-amerikanische Philosophin Judith Butler vor mehr als 30 Jahren. Die neoliberale Winnerpose, die die Songtexte vieler Popsänger:innen meiner Generation reproduzieren, ist nur eine Neuaufführung eines alten Theaterstücks: Der Mann kämpft und strengt sich an, er fällt hin und steht wieder auf. Versagen ist keine Option.
Es mag an der Erschöpfung liegen, aber als ich mitten auf dem Trimm-dich-Pfad stehe und die anderen joggenden Ü40-Männer um mich herum anschaue, fällt mir ein: Wir sind sicher fitter, stärker und gesünder als unsere Väter und Großväter – physisch sowie geistig. Sie gingen in die Kneipe. Wir gehen ins Fitnessstudio und zur Psychotherapie.
Und trotzdem haben viele von uns offenbar noch große Angst davor, Schwäche zu zeigen. Schwache Männer sind eine Plage der Gesellschaft, sagt der kanadische Psychologe Jordan Peterson. Der Professor hat es dank Selbstverbesserungvideos zum Youtube-Star geschafft, in denen er junge Männer dazu auffordert, den Kopf gerade und ihr Zimmer sauber zu halten – und nebenbei auf Feminismus, Gleichberechtigung, „Genderwahn“ und politische Korrektheit schimpft.
Zu seiner Gefolgschaft zählen vor allem junge Männer – aber auch viele meiner Altersgenossen. Seiner sozialdarwinistischen Weltanschauung zufolge kann nur ein starker Mann ein echter Mann sein, denn schwache Männer können nicht „tugendhaft“ sein.
Selbst wenn sie Petersons grimmige Weltanschauung nicht hundertprozentig teilen, weiß ich, dass sich viele Männer in meinem Alter vom Ideal des „starken Mannes“, des Machers, des Anpackers, angezogen fühlen – im Beruf wie in der Wirtschaft und Politik. Das erklärt unter anderem, warum viele von ihnen laut Umfragen den „Alphapolitiker“ Friedrich Merz so gern haben, einen Gendergenossen, der – in den Worten der Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele – die große Sehnsucht der CDU nach Männern erfüllt, die mit Entscheidungsstärke Entscheidungen treffen.
Politik als Schlachtfeld
„Männer auf der ganzen Welt nutzen politische Gewalt als Mittel, um sich wieder mit ihrer Männlichkeit auseinanderzusetzen“, schreibt der britische Autor J. J. Bola in seinem Buch „Sei kein Mann“. Sie tun das, um sich so zu fühlen, wie es ihrer Meinung nach für Männer richtig ist: als jemand, der für das kämpft, woran er glaubt. So sagte Merz bei einem öffentlichen Auftritt vor einigen Monaten, Politik sei für ihn in erster Linie Führung – und Führung sei, das Richtige so vorzutragen, dass man Mehrheiten dafür gewinnt.
Politik ist ein Schlachtfeld. Der Politiker ein Heerführer. Diese Vorstellung von Macht verbindet viele „starke Männer“ der Weltpolitik, von Jair Bolsonaro über Viktor Orbán bis Wladimir Putin. In der Rede, mit der Donald Trump die Ausschreitungen in Washington lostrat, sagte der selbst ernannte „tough guy“: “Ihr werdet nie euer Land mit Schwäche zurückerobern. Ihr müsst Stärke zeigen.“
Diese Rhetorik der männlichen Stärke schien bis vor wenigen Jahren eine Sache der Vergangenheit zu sein, der man allenfalls noch in streng patriarchalischen Gesellschaften begegnen konnte. Inzwischen dominiert sie große Teile der Öffentlichkeit in den meisten demokratischen Ländern.
Und sie dominiert die Gedanken vieler Männer. Ich weiß das, weil ich selber ihre Anziehungskraft spüre. Weil ich Angst vor dem Versagen habe – Angst davor, schwach zu sein. Deshalb gehe ich joggen. Weil ich auf dem Trimm-dich-Pfad die Illusion habe, (noch) stark und fit zu sein. Weil es nichts anderes gibt, was mir mehr Angst einjagt, als der Gedanke, dann zu versagen, wenn mich meine Familie braucht – der Gedanke, dass etwas Schlimmes passiert und ich den Menschen, die ich liebe, nicht helfen kann, weil ich nicht fit und stark genug bin.
Deshalb spricht mich in letzter Zeit eine nicht vorbild- und tugendhafte Figur wie Sinatra an – Sinatra der Säufer, der launische Despot, der abwesende Vater. Nicht weil es cool ist, zu saufen, fremdzugehen und die eigene Familie im Stich zu lassen. Viel zu viele Männer tun genau das jeden Tag und tun dabei den Menschen in ihrem Leben brutal weh – geistig und oftmals physisch.
Sinatra spricht mich an, weil er – anders als die meisten seiner Zeitgenossen – keine Angst hatte, seine Schwäche zu zeigen. Im Gegenteil: Seine Schwäche war eine Art Superkraft. Er zeigte Männern wie meinem Vater, dass es in Ordnung ist, schwach zu sein. Es ist in Ordnung, hinzufallen und am Boden zu liegen – solange es nötig ist. Und es ist in Ordnung, langsam zu gehen, während alle anderen rennen.
„Mann im Spiegel“ – singt jetzt Sinatras Stimme in meinem Kopfhörer – „bereue nichts; ein weiser Mann vergisst nie, dass das Leben nur dann lebenswert ist, wenn man hin und wieder in den Spiegel blicken kann – und lächeln.“
Ich laufe weiter auf dem Trimm-dich-Pfad. Schritt für Schritt. Lächelnd.
Fabio Ghelli, Jahrgang 1978, ist ein italienischer Journalist und lebt seit zehn Jahren in Berlin. Er ist Redakteur beim Mediendienst Integration.
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