Machtwechsel in Syrien: Vom Winde verweht
Syriens Diktator Assad verschwindet kommentar- und spurlos. Die Rebellen übernehmen die Macht im ganzen Land. Das alte Regime ist Geschichte.
![Syrische Oppositionskämpfer feiern nach dem Zusammenbruch der syrischen Regierung Syrische Oppositionskämpfer feiern nach dem Zusammenbruch der syrischen Regierung](https://taz.de/picture/7402566/14/37189926-1.jpeg)
Massaker, Terror, Vertreibung, Hungerblockaden, Giftgas: Dreizehn Jahre lang hatte das Assad-Regime mit brutalsten Mitteln den im „Arabischen Frühling“ 2011 millionenfach geäußerten Ruf der syrischen Bevölkerung nach Freiheit erstickt. Nun fand der Diktator selbst kein einziges Wort für sein Land, bevor er spurlos verschwand und die Macht den Rebellen überließ, die zuvor durch das halbe Land marschiert waren. Das Schicksal des 59-jährigen Gewaltherrschers war am Sonntag eines der großen ungelösten Rätsel dieses historischen Tages.
Die Rebellenoffensive gegen Assad hatte am Mittwoch, den 27. November begonnen, mit einer Offensive der HTS aus ihrer Hochburg Idlib in Richtung Aleppo. Assad flog nach Moskau, um militärischen Beistand zu erbeten – vergeblich: Russland hatte nichts im Angebot außer Luftangriffe.
Nachdem Aleppo am 30. November kampflos an die Rebellen fiel, soll Assad heimgekehrt sein, um die Verteidigung des syrischen Kernlands von Damaskus über Homs bis Latakia an der Mittelmeerküste zu organisieren – ebenfalls erfolglos: Die Rebellen stießen tief nach Süden vor. Sie eroberten am vergangenen Donnerstag die Stadt Hama und näherten sich am Freitag der Stadt Homs. Im Süden des Landes brachen eigene Aufstände aus, die ersten Aufständischen von dort erreichten am Samstag die südlichen Vororte von Damaskus.
Spekulationen um Flugzeugabsturz
Noch immer kam niemand Assad zu Hilfe. Deir ez-Zor am Euphrat fiel an die vorrückenden kurdischen Kämpfer. Russland rief seine Staatsbürger dazu auf, Syrien zu verlassen – es hatte Assad offenbar fallengelassen.
Ein Gipfeltreffen am Samstagabend in Katars Hauptstadt Doha besiegelte Assads Isolation. Bei Gesprächen zwischen den Außenministern Russlands, Irans und der Türkei und internationalen Diplomaten wurde Berichten zufolge ein Deal erwogen, wonach Assad nach Moskau ins Exil geht. Über die Details wurde man sich nicht einig, Assads Vertreter wollten davon sowieso nichts wissen.
Während im Sheraton-Hotel von Doha verhandelt wurde, fiel in Syrien Homs an die Rebellen. In Damaskus gab es Berichte, Assad sei unauffindbar, die Garde um seinen Palast sei abgezogen. Um 4.59 Uhr Ortszeit am frühen Sonntagmorgen (2.59 Uhr MEZ) hob am Flughafen von Damaskus ein Militärflugzeug in östlicher Richtung ab. Sofort machten Meldungen die Runde, Assad habe Damaskus verlassen. Nach kurzer Zeit drehte das Flugzeug Richtung Nordwesten ab, dann drehte es erneut und eine halbe Stunde nach Abflug verlor es rapide an Höhe und verschwand nahe Homs vom Radar.
Stürzte das Flugzeug ab? Wurde es von einer russischen Flugabwehrrakete zu Boden gebracht? Wurde Assad, den niemand mehr wollte, eliminiert? Oder saß er gar nicht in der Maschine? Am Sonntagnachmittag erklärte ausgerechnet die russische Regierung, Assad habe Syrien verlassen. Lebend oder tot?
Assads Folterknäste öffnen sich
Sicher war nur eines: Das Regime war tot. Immer wieder hatten Regierungsstellen in Damaskus eine siegreiche Endschlacht in Aussicht gestellt – erst in Hama, dann in Homs, dann in Damaskus. Aber sobald irgendwo Rebellen auftauchten, streckten die Regierungstruppen die Waffen. Kaum jemand wollte noch für Assad sein Leben riskieren.
In Damaskus feierten am Sonntag Menschen auf den Straßen den Fall des Diktators. Tausende sangen auf dem Hauptplatz „Freiheit“, auch in der Großstadt Homs zerrissen junge Männer Assad-Plakate, während die Aufständischen in die Luft schossen. Überall fielen die Assad-Denkmäler, sogar in Assads alawitischer Heimatregion.
Besonders bewegend: die Szenen, in denen sich die Tore von Assads Folterknästen öffneten und zu Tausenden Häftlinge, die teils seit vier Jahrzehnten von der Außenwelt isoliert gewesen waren, von bewaffneten Rebellen abrupt in eine Freiheit hinausbegleitet wurden, von der sie nichts ahnten und die viele von ihnen offensichtlich überwältigte.
Abdel Azeem, Exhäftling
„Nichts auf der Welt ist schlimmer als das, worin wir gelebt haben“, schreibt ein ehemaliger Gefangener, Abdel Azeem. Er habe im berüchtigten Gefängnis 235 „die sehr dunkle Seite der Regimebrutalität“ erlebt. „Die Glücklichkeit ist grenzenlos.“ Man erwarte jetzt eine Übergangsregierung mit Freiheit und Gleichheit für alle.
In Damaskus eskortierten Aufständische Ghazi al-Jalali, den erst im September von Assad berufenen Premierminister Syriens, aus seinem Amtssitz ins Hotel Four Seasons zu Gesprächen mit den neuen Herren. Im Staatsfernsehen versprach Jalali daraufhin die „geordnete Machtübergabe“ und grenzte sich klar vom verschwundenen Assad ab: „Ich bin zu Hause, ich kenne kein anderes Land als meine Heimat“, sagte er. „Das Land gehört nicht mir, es gehört niemandem, es gehört allen Syrern. Deswegen reichen wir allen Syrern die Hände.“
Ausgangssperre in Damaskus
Alle staatliche Gebäude sowie der Flughafen waren da bereits in Rebellenhand. Die HTS-Kämpfer hatten strikte Anweisungen, öffentliche Institutionen zu schützen und Privateigentum zu respektieren. Die Anweisung beeindruckte offenbar nicht alle. Auf Videos ist zu sehen, wie Bewaffnete und Unbewaffnete von Assads verborgenen Schätzen Besitz nehmen: Sie laufen im Präsidentenpalast herum, sie bestaunen die roten Rennwagen in der Tiefgarage, sie tragen volle Säcke aus der Zentralbank, sie verwüsten die iranische Botschaft.
Nicht HTS spielte in Damaskus die Hauptrolle, sondern die Rebellen aus dem Süden Syriens: Drusen aus Suwayda und ehemalige, offiziell mit dem Regime „versöhnte“ Aufständische aus Daraa. HTS-Führer Jolani traf erst am Sonntagnachmittag in Damaskus ein und seine Bewegung verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.
„Das Gefühl ist unbeschreiblich“, freut sich eine syrische Geflüchtete in der nordjordanischen Stadt Irbid in einer Nachricht: „Heute können Syrer*innen den Geschmack der Freiheit spüren, nach 14 Jahren Krieg, Tot, Zerstörung und Folter. Ein freies Syrien!“ Und sie fügt hinzu: „Hoffentlich werden wir zurückkehren.“
Auf der syrischen Seite der Grenze, in Suwayda knappe 30 Kilometer entfernt, sagt ein 37-jähriger Schreiner, Basman Naseef, man wolle aufhören, in diesem Dauerzustand von Revolution und Wut zu leben. „Wir wollen eine säkulare, föderale Regierung, die uns die Freiheit bringt, die wir verdienen. Frei von Terror und Extremismus.“ Nour Radwan, Direktor des lokalen Nachrichtenportals Suwayda24, schreibt auf Nachfrage: „Ich glaube, dass der echte Kampf für die Syrer*innen jetzt beginnt, um einen wahren Staat aufzubauen auf den Grundlagen von Justiz und Gleichheit aller Bürger*innen. Ich bin vorsichtig optimistisch.“
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