Machtmissbrauch: SOS im Kinderdorf
Auch in SOS-Kinderdörfern gab es Misshandlungen. Die Taten werden aufgearbeitet – doch Betroffene fühlen sich allein gelassen.
Z wei Jahre hat Nici Müller auf den Entscheid gewartet. So lange ist es her, dass die junge Frau, die Anfang Januar 2024 in einem Münchner Café sitzt, Anzeige gegen ihre ehemalige Kinderdorfmutter erstattet hat. Gegen die Frau, die Müller sechs Jahre in einem SOS-Kinderdorf in Bayern großgezogen hat.
Die so etwas wie ihre Ersatzmutter sein sollte, weil Müller schon als kleines Kind vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. Aber diese Frau, sagt Müller, war keine liebevolle Ersatzmutter. „Sie war unberechenbar. Wir wurden zwar nicht verprügelt, aber an den Haaren gezogen und unsere Köpfe gegeneinandergestoßen. Sie hat die Gemeinheiten nie vor anderen begangen.“
Müller holt ihr Handy aus der Tasche und zeigt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 22. Dezember 2023. Es bestätigt, dass gegen die Beschuldigte wegen „schweren Missbrauchs von Schutzbefohlenen“ Anklage erhoben werden soll. „Es gibt Zeugen, die stützen meine Version“, sagt Müller. Ihre helle Stimme klingt nicht aufgeregt, sondern zufrieden und zuversichtlich.
Die junge Frau, Anfang 20, heißt in Wirklichkeit anders. Sie will ihre Identität schützen, auch wenn sie mit der Anzeige einen Schritt in die Öffentlichkeit wagt. „Ich habe in der Pubertät eine massive Essstörung bekommen“, sagt Müller. „Ich bin bis heute deswegen in Behandlung. Eine Zeit lang habe ich nur 41,5 kg gewogen.“ Inzwischen habe sie wieder zehn Kilo zugenommen.
Zart wirkt Müller noch immer. „Wir wurden zum Essen gezwungen. Bekamen wir es nicht herunter, wurde das Essen püriert, und wir mussten es trinken. Manchmal saß ich abends um elf noch davor.“ Als extrem erlebte Müller auch die Badesituationen, in denen ihre Kinderdorfmutter den harten Wasserstrahl direkt auf die Gesichter der Kinder gerichtet habe.
Es klingt nach Nachkriegszeit, nach Schwarzer Pädagogik und schlimmer. Doch Müllers Geschichte trug sich in den Jahren 2007 bis 2013 zu. „Wir geben jungen Menschen Hoffnung und Zukunft“, heißt es in der Selbstdarstellung von SOS-Kinderdorf, „wir bieten Geborgenheit und öffnen Zukunftschancen.“ Doch 2020 gelangten Meldungen von Machtmissbrauch und Misshandlung in einzelnen SOS-Kinderdorffamilien an die Öffentlichkeit; es sind Fälle, die juristisch nicht verjährt sind.
Nici Müller ist eines von fünf ehemaligen SOS-Kinderdorfkindern in Bayern, die bei der Staatsanwaltschaft Augsburg Anzeige erstattet haben.
Wie viele Betroffene sonst Anzeige erstattet haben, ist nicht bekannt. SOS-Kinderdorf Deutschland selbst ist nicht verfahrensbeteiligt, die Anzeigen richten sich gegen Personen und nicht gegen die Institution.
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Keine pädagogische Einrichtung ist vor Grenzverletzungen geschützt, sie passieren im Alltag. Doch wo fängt Machtmissbrauch an, wo Misshandlung? Wie bemisst sich psychische, wie physische Gewalt? Kommt eine Aufarbeitung zustande? Und wie geht es den Betroffenen während dieses Prozesses?
SOS-Kinderdorf Deutschland hat lange gebraucht, sich der eigenen Geschichte zu stellen. 1949 gründete der Österreicher Hermann Gmeiner ein neuartiges Modell der Kinder- und Jugendhilfe als Alternative zur traditionellen Heimerziehung – eine Art Sozialwerk für Kinder, geboren aus der Not der Nachkriegszeit.
Es gab einerseits Obdachlosigkeit und viele Kriegswaisen, es gab andererseits alleinstehende oder verwitwete Frauen, die nach einer Aufgabe suchten. Die Idee der Kinderdorffamilie führte die Bedürftigkeit der Kinder und fehlende staatliche Strukturen mit dem Engagement Einzelner zusammen.
Gmeiners Kernidee: familienähnliche Hausgemeinschaften, die wiederum eine Dorfgemeinschaft bilden. Das Konzept war für die Zeit fortschrittlich: liebevoller Umgang statt restriktiver Erziehungsmaßnahmen, Gemeinschaft statt Vereinzelung und Verlassensein, Nähe statt Kälte. Die einzelne Kinderdorfmutter fungierte als Haushalts- oder Familienvorstand, die mit ihren Schutzbefohlenen gemeinsam lebte. „Die Kinderdorfmutter ist keine beamtete Erzieherin“, heißt es im Kinderdorfboten von 1958, „sondern will ihren Kindern eine wirkliche Mutter sein.“
Bis zu neun Kinder aller Altersstufen lebten anfangs in einer Familie, heute sind es im Schnitt 4,8 Kinder. Kinderdorfmütter brauchten keine Ausbildung; sie mussten unverheiratet sein, erhielten neue Namen und einen Ring.
Dass nicht etwa Elternpaare, sondern einzelne Frauen als Familienoberhaupt eingesetzt wurden, hatte mit einer vom Zeitgeist geprägten Idee von „natürlicher Mütterlichkeit“ zu tun, man umging damit aber auch das Problem, dass verheiratete Frauen eigene Kinder in den Haushalt mit eingebracht hätten. Erst 2000 änderten sich die Richtlinien bei SOS-Kinderdorf. Kinderdorfmütter oder -väter müssen seitdem eine Ausbildung als Erzieher oder Sozialpädagogin mitbringen, durchlaufen psychologische Eignungstests und ein Probejahr.
SOS-Kinderdorf ist heute ein großer nonkonfessioneller und nichtstaatlicher Player im Bereich der Jugendhilfe. Allein in Deutschland gibt es 38 Einrichtungen an 254 Standorten mit rund 5.000 Beschäftigten. 1.852 Kinder und Jugendliche wurde 2022 in Kinderdorffamilien betreut. Waren es in der Anfangszeit viele Kriegswaisen, sind es heute meist vom Jugendamt in Obhut genommene Kinder, oft noch im Kleinkindalter.
Für seine Einrichtungen muss der Verein Betriebserlaubnis beantragen und erhält pro betreutem Kind Zuwendungen von Kommune oder Staat. Jedes Vorkommnis, das im Rahmen des institutionellen Kinderschutzes passiert, muss der Heimaufsicht gemeldet werden.
Die Debatte um Missbrauch und sexualisierte Gewalt hat in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Relevanz und Resonanz gewonnen. Im Januar überraschte der Bericht zum sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche – nachdem jahrelang die katholische Kirche als der Hauptübeltäter galt. Es gibt Enthüllungen zu sexuellen Übergriffen in Sportvereinen und bei den Pfadfindern. SOS-Kinderdörfer sind keine geschlossenen Institutionen, die Kinder besuchen öffentliche Schulen, umgekehrt bieten sie Nachmittagsbetreuung für Kinder aus der Umgebung an. Wo sind die Fehler im System Kinderdorf, welche spezifischen Faktoren haben Missbrauch begünstigt?
Der Missbrauchsexperte Professor Heiner Keupp, der sich in einer Studie mit Missbrauch bei SOS-Kinderdorf auseinandergesetzt hat, sieht die zentrale Position der Kinderdorfmütter als besondere Schwachstelle im Kinderdorf-System an. Sie habe zu einem „Machtanspruch“ und einer „Autonomiefiktion“ geführt, die zu lange von den Dorfleitungen toleriert worden sei.
Die Kinderdorfmütter fühlten sich verantwortlich für das, was in den Häusern vorging, die sie wie ein Bollwerk nach außen schützten – und in manchen Fällen wie ein Gefängnis abriegelten.
Die taz hat für diese Recherche Menschen getroffen oder gesprochen, die in einem SOS-Kinderdorf Opfer von Missbrauch oder Misshandlungen wurden. Ein Teil der Fälle ist verjährt. Wir haben auch mit ehemaligen Kinderdorfkindern gesprochen, die eine gute Zeit dort verbracht haben. Und mit zwei jungen Menschen, die Anzeige gegen ihre ehemalige Kinderdorfmutter erstattet haben. Wir haben mit Mitarbeiter*innen, Missbrauchsexperten sowie den heute Verantwortlichen bei SOS-Kinderdorf gesprochen.
Eine zentrale Rolle bei der Recherche spielt das erste deutsche SOS-Kinderdorf Dießen am Ammersee, gegründet 1955. Ein Besuch dort wurde der taz nicht ermöglicht.
Neue Missbrauchsvorwürfe sind nicht bekannt, die Leitung hat mehrfach gewechselt.
Nici Müller ist in diesem bayerischen SOS-Kinderdorf aufgewachsen. Sie war fünf, als sie in die Familie der beschuldigten Kinderdorfmutter kam. Anfangs seien sie sechs Kinder gewesen, erzählt Müller, später noch vier. „Sie hieß ‚Mama‘ für uns“, erzählt Müller. Diese Mama lebte mit ihnen, es gab eine Haushaltshilfe und „nette Erzieher“, sagt Müller. „Mit ihnen konnte man lachen.“ Sie erinnert sich auch an „tolle Angebote im Dorf“ wie Theater oder Kunsttherapie, im Haus hätten sie dagegen kaum Besuch bekommen.
Es sei mit Kleinigkeiten losgegangen. „Unsere Mutter wollte ausschlafen, deswegen durfte man früh nicht laut sein, auch nicht auf Toilette gehen. Sonst gab es einen Anschiss oder Süßigkeitenverbot. Manchmal nahm sie uns die Matratze weg, dann mussten wir auf dem Lattenrost schlafen. Sie wollte, dass wir dasitzen und sie anflehen, uns nicht zu bestrafen.
Es gab einen starken Konkurrenzkampf in der Gruppe um ihre Anerkennung, den sie angestachelt hat.“ Manchmal sei sie auch plötzlich lieb gewesen. „Es war Überforderung“, sagt Müller. Sie vermutet ein Burnout bei ihrer ehemaligen Kinderdorfmutter, weil diese immer öfter krank geworden sei und irgendwann das SOS-Kinderdorf ganz verlassen habe.
„Natürlich ist es anderen Menschen aufgefallen, dass in unserem Haus nicht alles stimmte“, sagt Müller. „Aber keiner hat etwas unternommen.“
Warum nicht?
„Die Frage stelle ich mir bis heute. Ich nehme an, aus Angst, dass etwas nach außen dringt. Es wussten viele, die dort gearbeitet haben.“
Valentin Wrobl, auch ein ehemaliges SOS-Kinderdorfkind, vermutet noch einen anderen Grund: dass ihnen unterlassene Hilfeleistung zur Last gelegt werden könnte.
Auch Wrobl heißt in Wirklichkeit anders. Der junge Mann, ein paar Jahre älter als Nici Müller, lebte von 2001 bis 2015 im gleichen SOS-Kinderdorf. Andere Familie, andere Kinderdorfmutter, ähnliche Erfahrungen. Er und Müller kennen sich, weil beide im Beirat der ersten SOS-Kinderdorf-Studie saßen, die 2020 vom Vorstand des Vereins bei Professor Heiner Keupp in Auftrag gegeben worden war.
Der Sozialpsychologe hat bereits die Missbrauchsvorfälle im katholischen Kloster Ettal und an der Freien Odenwaldschule mit aufgearbeitet. Seine Studie mit Fokus auf das SOS-Kinderdorf Dießen kam zu dem Schluss, es habe dort bereits ab den 1960er und 1970er Jahren „massiven Missbrauch und sexuelle Gewalt“ gegeben. Falls Vorfälle bekannt wurden, habe man versucht, sie zu vertuschen. Die Verantwortlichen gingen von selbst oder wurden versetzt und konnten an ihrem neuen Wirkungsort weiter agieren. Ein klassischer Fall von institutionellem Versagen.
Wrobl und Müller haben ihre Geschichte in der Studie dokumentiert. Die Mitarbeit im Beirat hat sie ermutigt, Anzeige zu erstatten.
Wrobl studiert heute, Bayern hat er hinter sich gelassen. Auch er hat gegen seine ehemalige Kinderdorfmutter Anzeige wegen „Missbrauch von Schutzbefohlenen“ erstattet. Bei einem Treffen im Herbst 2023 will er mit seinem Namen an die Öffentlichkeit gehen, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Später zieht er die Zusage zurück, wir dürfen seine Geschichte anonymisiert verwenden.
Vier Jahre alt war Wrobl, als er ins SOS-Kinderdorf kam, zusammen mit seiner jüngeren leiblichen Schwester. Acht Jahre verbrachte er in Obhut jener Frau. „Wir lebten völlig abgeschottet“, sagt Wrobl, „auch innerhalb des Kinderdorfs. Unsere Mutter hat uns nicht vor anderen geschlagen. Die häufigste physische Bestrafungsmethode war das Ziehen der Ohren. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass es manchmal richtig geknackt hat im Trommelfell, wenn sie mich daran zog.“
Rückblickend war es für Wrobl „mehr als Schwarze Pädagogik“, es sei Sadismus dabei gewesen. „In der Adventszeit drohte unsere Mutter uns mit dem Krampus, der im Keller wohnt und die Kinder mitnimmt. Wir klammerten uns an ihre Beine und bettelten: Bitte, schick uns nicht dorthin!“ Sie hätten immer auf der dritten Kellerstufe von unten sitzen müssen, erinnert sich Wrobl. „Unsere Mutter hat es schrittweise geschafft, dass wir alles hinnahmen. Wir mussten um alles betteln: Mama, darf ich bitte rausgehen, darf ich Marmelade aufs Brot …? Das schafft emotionale Abhängigkeit.“ Es gibt ein Gedächtnisprotokoll Wrobls, das der Staatsanwaltschaft und der taz vorliegt.
Als Wrobls Kinderdorfmutter 2010 in Rente ging, bekam er eine neue Kinderdorfmutter, die wegen Burnouts nach einem Jahr wieder ging. Ihre Nachfolgerin stellte fest, dass die Kinder schwere seelische Schäden davongetragen hatten. „Wir waren verhaltensauffällig“, sagt Wrobl. „Wir mussten erst lernen, normale Kinder zu sein. Wir hatten immer Hunger. Beim Essen haben wir alles in uns hineingestopft.“
Die neue Kinderdorfmutter – Wrobls vierte – war die erste Person in seinem Leben, von der er sich unterstützt fühlte. Sie wandte sich 2016 an den Dorfleiter, damit der Sache nachgegangen wird. Der wiederum delegierte es an die Bereichsleitung, die eine interne Aussprache arrangierte.
„Auf der einen Seite saßen wir, vier traumatisierte Kinder, unserer ehemaligen Peinigerin gegenüber“, erinnert sich Wrobl. Zwar seien zwei Pädagogen anwesend gewesen, hätten aber weit weg am anderen Ende des Raumes als Beobachter gesessen. „Logisch, dass wir kein anklagendes Wort herausgebracht haben.“
Die Aussprache verlief dann etwa so:
– „Du warst manchmal streng mit uns.“
– „Ihr wart auch schwierige Kinder. Ich musste streng mit euch sein.“
Als Zeichen, dass alles gut ist, hätten die vier Kinder anschließend – „Hand in Hand und für alle sichtbar“ – mit der ehemaligen Kinderdorfmutter durchs Dorf spazieren müssen, erinnert Wrobl. Konsequenzen habe die Aussprache nicht gehabt.
Der Diplompsychologe Erich Schöpflin leitete von 2003 bis 2016 das SOS-Kinderdorf Dießen. Er ist heute in Rente. Als die Missbrauchsvorwürfe dort durch die Strafanzeigen publik wurden, sagte er der Lokalzeitung Kreisbote, er habe von den Vorfällen nichts gewusst. Zwar habe es Meldungen gegeben, dass einzelne Hausmütter „an ihre Grenzen“ stießen und man habe darauf „entsprechend reagiert“, aber „vielleicht bei den aktuellen Fällen zu spät“. Er bedaure, dass sich niemand an ihn gewandt habe, sagt er in einem anderen Bericht.
„Was für eine Heuchelei“, ruft Nici Müller aus. „Ich weiß von Kindern, die zum Dorfleiter gegangen sind. Er hat nichts unternommen.“ Valentin Wrobl sagt, er habe sich mindestens einmal nachts zum Haus des Dorfleiters geflüchtet und dort geklingelt. Er solle morgen wiederkommen, sei ihm von diesem beschieden worden. Wrobl besitzt Schreiben einer ehemaligen Praktikantin, die sich bereits 2008 an den Dorfleiter wandte, weil sie viele Abläufe in seiner Familie „als sehr bedenklich“ und als „Erniedrigung“ empfand und „dringenden Handlungsbedarf“ sah.
Der taz liegen Kopien der Schreiben vor, die damalige Praktikantin hat es telefonisch der taz bestätigt. „Das ganze Dorf hat es mitgekriegt, wenn die Kinder im Sommer um fünf im Schlafanzug auf der Terrasse am Abendbrottisch sitzen mussten, während die anderen draußen fröhlich spielten. Die Methodik war: kleinmachen, kurzhalten, triezen, bis den Kindern das letzte Lächeln vergeht.“ Die Ex-Praktikantin, die bald gekündigt hat, weil ihr, wie sie sagt, durch den Dorfleiter die „Kündigung nahegelegt“ wurde, ist bereit, sich als Zeugin vor Gericht benennen zu lassen.
Auf Nachfrage der taz will sich der ehemalige Dorfleiter nicht zu den Vorgängen äußern. „Meine Wahrnehmungen dazu habe ich bereits bei Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe der örtlichen Presse zur Verfügung gestellt und ich kenne auch keine neuen Fakten“, schreibt Erich Schöpflin in einer E-Mail.
Im August 2021 hatte Valentin Wrobl Anzeige erstattet, im Oktober 2023 erhält er einen Brief der Staatsanwaltschaft Augsburg, dass „mangels überwiegender Verurteilungswahrscheinlichkeit“ keine Anklage erhoben werde. Wrobl ist geschockt und schreibt der taz: „Einige Zeugen haben rundheraus gelogen, und ich werde das auf jeden Fall versuchen anzufechten.“
Mit Oliver Schreiber, dessen Kanzlei in München sitzt, haben Müller und Wrobl einen erfahrenen Anwalt zur Seite. Er ist Anhörungsbeauftragter der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs für Bayern. „Die Einstellung [des Verfahrens, Anm. d. Red.] heißt nicht zwingend, dass nichts dran ist an den Anschuldigungen“, sagt Schreiber im Videocall, „sondern dass nach Auffassung der Staatsanwaltschaft die Beweislage nicht reicht.“
Missbrauchsopfer Valentin Wrobl
Natürlich sei es mit dem Erinnerungsvermögen oder der Detailgenauigkeit von Zeugen oft schwierig, gerade wenn es um Geschehnisse in der Kindheit gehe. „Abweichungen, Verschiebungen und Projektionen passieren, das wissen wir, aber das Verfahren einzustellen, ohne sich ein eigenes Bild von der Persönlichkeit der geschädigten Zeugen zu machen, finde ich der Bedeutung der Sache nicht angemessen.“ Der Staatsanwaltschaft lägen die verschriftlichten Zeugenaussagen bei der Polizei vor. Sie stelle aber keine eigenen Ermittlungen an. „Das könnten sie, wenn sie wollten. Auch die Möglichkeit einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung wurde seitens der Staatsanwaltschaft nicht genutzt.“
Nici Müller erfährt im März 2024 ebenfalls einen Rückschlag. Das zuständige Amtsgericht will die Anklage der Staatsanwaltschaft Augsburg nicht zulassen. „Das kommt äußerst selten vor“, sagt Anwalt Schreiber. „Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, wird diese meist unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen. Jetzt ist das ausführende Amtsgericht in Landsberg der Meinung, dass das alles nicht konkret genug sei, was die Zeugen schildern.“
Im April schreibt Müller der taz eine Nachricht: „Natürlich war ich sehr traurig und enttäuscht darüber, aber groß was dagegen machen kann ich auch nicht. Ich habe alles gegeben, hat nur nicht gereicht.“
Will sie Beschwerde einlegen?
„Das kann ich aktuell noch nicht sagen.“
Der Anwalt wird bei Nici Müller eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Amtsgericht einlegen, um alle Möglichkeiten offen zu halten. Bei Valentin Wrobl läuft eine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft. Die taz hat versucht, mit den beschuldigten Kinderdorfmüttern über ihre Anwälte Kontakt aufzunehmen.
Im Fall Müller heißt es, man warte die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ab, bevor man sich zur Sache äußere. Der Anwalt von Wrobls Ex-Kinderdorfmutter hat ein Statement geschickt, in dem „die erhobenen Vorwürfe als unzutreffend“ bezeichnet werden. Im Abschlussbericht von Professor Keupp, der sowohl mit Wrobl wie mit der Beschuldigten gesprochen hatte, seien „mehrfach Unwahrheiten und Unrichtigkeiten enthalten“.
Die juristischen Prozesse sind jedoch nicht der einzige Weg der Aufarbeitung rund um die Missbrauchsvorwürfe. SOS Kinderdorf Deutschland hatte 2020 zunächst mit der Beauftragung der Studie zum SOS-Kinderdorf Dießen bei dem renommierten Missbrauchsexperten Heiner Keupp reagiert. Das interne Monitoringsystem hatte offensichtlich versagt. In seinem Abschlussbericht empfahl Keupp eine umfassende institutionelle Aufarbeitung durch eine externe Kommission.
Im März 2022 nahm die „Unabhängige Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts bei SOS-Kinderdorf“ unter Leitung des Diplompädagogen Klaus Schäfer die Arbeit auf. 160 Meldungen lagen anfangs vor. In allen großen Medien veröffentlichte die Kommission außerdem einen Aufruf an Betroffene, sich zu melden: „Als Unrecht gelten körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt durch Erwachsene sowie Übergriffe durch Gleichaltrige“, heißt es dort.
Etwa die Hälfte der Meldungen beträfen Fälle von Gewalt oder Missbrauch unter den Jugendlichen selbst, bestätigt der Kommissionsvorsitzende Schäfer am Telefon. Nach der Medienkampagne seien noch einige Meldungen hinzugekommen. Schwerwiegendere Fälle als die schon bekannten? „Für Einzelne ist es immer schwerwiegend“, sagt Schäfer. Auch wenn die Details schillernder werden mögen, sei das Erinnerungsvermögen meist gut. „Die Geschichten haben sehr viel Plausibilität.“
Derzeit wertet die Kommission die Anhörungen und eigene Recherchen aus. „Angesichts der lang zurückliegenden Zeiträume war die Aktenlage schwierig“, sagt Schäfer. Heute gebe es bei SOS-Kinderdorf ein striktes Dokumentationsmanagement, heißt es in der Geschäftsstelle, in der Vergangenheit seien aber viele Akten unter Berufung auf das Persönlichkeitsschutzrecht vernichtet worden.
Die Kommission habe sich auf andere Orte und neue Fälle konzentriert, sagt Schäfer, um nicht „dieselbe Schleife nochmal zu ziehen“ wie Kollege Keupp mit der Studie. Im Herbst dieses Jahres soll der Abschlussbericht vorliegen, er wird den Fortschritt der vom Verein ergriffenen Maßnahmen zum Kinderschutz bewerten sowie Empfehlungen für die Höhe der finanziellen Anerkennungsleistungen aussprechen, die der Träger prinzipiell übernehmen will. „Man muss es abstufen“, sagt Schäfer. „Es gibt gravierende Unterschiede zwischen einer Ohrfeige und sexuellem Missbrauch.“
Allgemeine Richtlinien gibt es für Entschädigungen nicht. Im Schnitt werden bei den Missbrauchsfällen der katholischen Kirche zwischen 20.000 und 30.000 Euro gezahlt. In Köln wurde kürzlich erstmals einer Forderung von 300.000 Euro entsprochen. SOS-Kinderdorf hat in einigen Fällen bereits Anerkennungszahlungen geleistet. Der Verein vermittelt ansonsten Anwälte und übernimmt die Kosten für Therapien.
Der Verwaltungssitz von SOS-Kinderdorf Deutschland befindet sich in München. Dort in einem Besprechungsraum empfängt im Februar 2024 die Vorstandsvorsitzende, Sabina Schutter, im Beisein der Pressesprecherin. Dass Schutter im Frühjahr 2021 den Job in einem schwierigen Moment übernahm, sei ihr klar gewesen, sagt die frühere Professorin für Pädagogik der Kindheit. „Ich übernehme Verantwortung, unabhängig davon, ob ich vorher schon da war oder nicht. Ich sage den Betroffenen: Ich nehme ernst, was du sagst. Ich bitte um Entschuldigung.“
Die 47-Jährige ist gerade von einer Tour durch die SOS-Kinderdörfer zurückgekehrt. Jahresreflexion, Vertiefung des Kinderschutzkonzepts. „Eine Lektion, die wir aus der Aufarbeitung bereits gelernt haben“, erklärt Schutter, „ist, dass die Konzeption des Kinderschutzes, seine Ausführung und seine Kontrolle klar voneinander getrennt sind und diese drei Rollen nicht miteinander vermengt werden.“
Der Verein ist besorgt um den guten Ruf, den er seit Jahrzehnten genießt. „Wenn wir bei der Aufarbeitung transparent vorgehen, geht damit zunächst ein Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit einher“, sagt Schutter. Das könne sich negativ auf die Spendeneingänge auswirken. „Ich bin aber überzeugt davon, dass wir mit dem transparenten Handeln langfristig Vertrauen gewinnen.“
In Deutschland beliefen sich die Spenden an SOS-Kinderdorf im Jahr 2022 auf rund 213,5 Millionen Euro; darunter fallen Sachspenden, Nachlässe, Patenschaften und Stiftungserträge. Insgesamt macht das Spendenaufkommen plus Mitgliedsbeiträge und Bußgelder etwas mehr als 50 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Dafür leistet sich SOS-Kinderdorf Deutschland einen besseren Personalschlüssel, höhere Gehälter, viele therapeutische Zusatzangebote.
Seit zwei Jahren ist man dabei, den Aktionsplan Kinderschutz in den Kinderdörfern und anderen SOS-Kinderdorf-Einrichtungen umzusetzen. Es gibt Supervision und Supervision der Supervision, Kinderschutzfachkräfte, multiprofessionell aufgestellte Teams, Trauma-Fortbildung, ein Kinder- und Jugendparlament. Strategisch arbeitet SOS-Kinderdorf daran, sich vom alten Modell der Kinderdorffamilie zu verabschieden.
Es gibt Inklusion, Flüchtlingsarbeit, Wohngruppen für ältere Jugendliche, Familienzentren. Eins davon steht in Berlin-Moabit, wo im März Einrichtungsleiterin Kirsten Spiewack mit zwei Mitarbeiter*innen der wochentaz vom „familienanalogen“ Modell der Kinderdorffamilie berichtet, das sie seit 20 Jahren entwickelt haben: „Wir haben von Anfang an die 5-Tage-Woche für Kinderdorfeltern praktiziert“, erzählt Spiewack. „Uns war wichtig, dass sie im Team arbeiten und damit für mehr Entlastung, Flexibilität und kollegialen Austausch zu sorgen.“
Im Erdgeschoss des Familienzentrums ist die Cafeteria geöffnet, es gibt Familienberatung, Bastel- und Sprachkurse. Moabit ist ein Stadtteil mit hohem Anteil migrantischer Familien. Auch das ist anders beim Berliner Modell: Das Dorf ist in die Stadt gezogen. Die Kinder bleiben in ihrem Umfeld. Betreut werden sie nicht von einer Kinderdorfmutter oder einem -vater, sondern von einem Zweier-Team oder Elternpaar. Das können auch zwei Männer oder zwei Frauen sein. Diese haben ihren Lebensmittelpunkt in der Wohngruppe, weswegen sie nicht unter die EU-Arbeitszeitregelung fallen, die für externe Erzieher*innen maximal eine 24-Stunden-Schicht erlaubt.
„Unser Modell ermöglicht den Kinderdorfeltern ein eigenes Leben“, erklärt Spiewack, „gewährt den Kindern aber zugleich Kontinuität.“ Für die Einrichtungsleiterin ist ein vertrauensvolles Betriebsklima das Wesentliche: „Es ist wichtig, dass wir uns über unsere Probleme und Werte austauschen. Was bedeutet es, Macht zu haben? Ist Liebe ein Maßstab in der sozialen Arbeit? Wie viel körperlicher Kontakt ist erlaubt?“
Auf die Frage, wie es den Berliner Kolleg*innen mit den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen geht, antwortet Spiewack: „Es macht uns betroffen.“ Sie gibt auch zu bedenken: „Was macht es mit den Kindern?“ Und: „95 Prozent aller Kinder bei SOS-Kinderdorf haben ein gutes Leben.“
Fühlen sich die Berliner*innen durch die bekannt gewordenen Fälle in ihrer Arbeit und ihrem Engagement entwertet? Nein. „Es fühlt sich gut an, dass sich im Verein etwas tut“, sagt die Kollegin. Mit Kirsten Spiewack engagiert sie sich in der AG Vielfalt Kinderdorf, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Berliner Modell bundesweit bei SOS-Kinderdorf einzuführen: bis zu zwei Kinderdorfmütter oder -väter pro Familie mit einer variablen Kinderzahl zwischen eins und sechs.
Die Gesellschaft hat sich seit Gründerzeiten von SOS-Kinderdorf geändert. In München beim Vorstand und in den eigenen Forschungseinrichtungen denkt man über neue Familien- und Wohnformen, flexiblere Schichtmodelle, bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie nach.
Das alles ist viel – Strategie, Theorie, gute Absicht. „Meine Angst ist, dass man denkt: Viel Kontrolle hilft viel“, sagt Kirsten Spiewack in Berlin. „Du musst die Kinder lieben, dein Herz aufmachen, parteiisch sein.“ Kinder brauchen Menschen, an die sie sich binden und wenden können. Eine der ersten Fragen, die neue Kinder ihren Kinderdorfeltern nach der Ankunft oft stellen, lautet: Darf ich für immer bei dir bleiben? Viele Kinder haben mehrere Aufenthalte mit Abbrüchen in Pflegefamilien hinter sich.
„Kinderdorf ist besser als Kinderheim“, sagt Nici Müller. „Die Idee an sich ist super. Es geht familiärer zu. Aber es gibt zu viele Lücken im System. Es ist kein Zufall, dass ich Erzieherin werden möchte. Ich will nicht wegschauen.“
Kann sie sich vorstellen, später mal in einem Kinderdorf zu arbeiten? „Solange es dieses Modell der Kinderdorfmütter gibt, nein!“
„Meine erste Kinderdorfmutter war toll“, sagt Valentin Wrobl. „Wir haben erlebt, wie es sein kann.“ Die zweite übte jahrelang ein Schreckensregime aus, die dritte verschwand nach einem Jahr und die vierte half ihm auf die Beine.
Im April entscheidet sich Wrobl, die Nichtzulassung seines Verfahrens nicht anzufechten. Der psychischen Belastung eines neuen Verfahrens will er sich nicht mehr aussetzen. „Ich wollte, dass diese Frau versteht, was sie uns angetan hat. Mir ist klar geworden, dass das nicht passieren wird.“
Wrobl will künftig Soziale Arbeit studieren. „Ich bin immer durch mein Leben gerannt“, sagt er beim Telefonat Ende April. „Ich wollte Karriere machen, anderen beweisen, dass ich kein dummes Heimkind bin. Aber niemandem soll so etwas passieren wie mir.“
Sein Anwalt hält die Außenwirkung der Justizentscheidungen für „fatal“. „Dass die Verfahren beendet wurden, ohne dass sich die Justiz ein eigenes Bild von den Geschädigten gemacht hat, birgt eine erhebliche Retraumatisierungsgefahr für die Betroffenen“, sagt Oliver Schreiber. Es dürfe sich niemand wundern, dass angesichts solcher Entscheidungen viele Betroffene von Misshandlung und sexueller Gewalt auf eine Anzeige verzichteten.
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