Machtkampf in Venezuela: Der Weg in die Krise
Seit Mittwoch hat Venezuela zwei Präsidenten, zwei Parlamente und zwei Oberste Gerichte. Wie ist es dazu gekommen?
Bis vor Kurzem war der 35-jährige Juan Guaidó ein unbekanntes Gesicht auf der politischen Bühne Venezuelas. Doch seine Karriere ist beispiellos: Anfang des Jahres wurde der Mitbegründer der Oppositionspartei „Voluntad Popular“ zum Präsidenten des Parlaments berufen. Am vergangenen Mittwoch ernannte er sich kurzerhand selbst zum Staatsoberhaupt des südamerikanischen Landes. Das mag sich nach einem Putsch anhören, doch der Sachverhalt ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.
Um die aktuellen Entwicklungen in Venezuela zu verstehen, muss man zurückgehen ins Jahr 2015, als die letzten Parlamentswahlen stattfanden. Zu diesem Zeitpunkt regierte die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bereits seit 17 Jahren das Land. Zunächst unter Hugo Chávez, nach dessen Tod 2013 unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro.
Fast zeitgleich mit dessen Regierungsübernahme stürzte die wirtschaftliche Situation Venezuelas in eine Abwärtsspirale. Lebensmittel und Hygieneartikel verschwanden aus den Geschäften, die medizinische Versorgung im Land verschlechterte sich, die allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs. Auf politischer Ebene wurde das schließlich im Dezember 2015 deutlich: Die Opposition gewann bei der Wahl der Nationalversammlung in einem Erdrutschsieg die Mehrheit der Parlamentssitze – erstmals seit der Machtübernahme der Sozialisten.
Auch Juan Guaidó fand sich unter den Abgeordneten wieder. Doch im Frühjahr 2016 rief Präsident Maduro kurzerhand den nationalen Ausnahmezustand aus. Seitdem regiert er das Land über Notstandsdekrete. Zwar forderte die Opposition ein Referendum über den Verbleib Maduros im Präsidentenamt, scheiterte damit aber wiederholt am regierungsnahen Obersten Gerichtshof.
Politische Dispute werden auf der Straße ausgetragen
Ende März 2017 entzogen die Richter den Abgeordneten schließlich die Immunität und in der Folge dem Parlament jegliche Befugnisse, wie etwa die Verabschiedung von Gesetzen oder die Kontrolle über die Regierung. Diese übertrugen sie kurzerhand auf sich selbst und von ihnen ausgewählte Institutionen.
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Von da an gingen die Menschen in Venezuela fast jeden zweiten Tag gegen die Entmachtung des von ihnen gewählten Parlaments auf die Straße. Die Opposition versuchte weiterhin, ihre Legitimität über die Zivilgesellschaft zu untermauern, indem sie etwa eine Volksabstimmung mit fast 8 Millionen abgegebenen Stimmen abhielt. Doch auch diese wurde von den regierenden Sozialisten ignoriert. Stattdessen setzten sie ein Datum zur Wahl einer neuen Nationalversammlung fest, die der Opposition auch die letzten Mitsprachemöglichkeiten entziehen sollte.
Reden wollte zu diesem Zeitpunkt auf politischer Ebene keiner mehr. Stattdessen wurden die Dispute auf der Straße ausgetragen: Auf den Kreuzungen von Caracas türmten sich wochenlang Müllsäcke, Autoreifen und Steinbrocken. Zwischen den Laternenpfählen spannten Demonstranten Seile quer über die Straße, damit niemand mehr durchkam – vor allem die gefürchtete Nationalgarde auf ihren Motorrädern nicht. Monatelang dauerten die Proteste an, 121 Tote und 2.000 Verletzte zählte die Generalstaatsanwaltschaft im ersten Halbjahr 2017.
Mit Straßenblockaden, Kundgebungen, Protestmärschen und einem mehrtägigen Generalstreik versuchte die Opposition, die Wahl der Nationalversammlung zu verhindern – erfolglos. In einer scheinbaren Verzweiflungstat nahmen die oppositionellen Abgeordneten schließlich eine der Kernkompetenzen des Parlaments wahr: sie besetzten das Oberste Gericht neu. Die Richter setzten sich allesamt kurz nach ihrer Vereidigung ins Ausland ab und arbeiten seitdem im Exil. Ab diesem Zeitpunkt hatte Venezuela zwei Nationalversammlungen und zwei Oberste Gerichte, die sich beide selbst als legitim ansehen.
Viele junge Menschen verlassen das Land
Das von der sozialistischen Regierung eingesetzte Parlament sollte eigentlich eine neue Verfassung ausarbeiten, doch die gibt es bis heute nicht. Dafür wurden für Mai 2018 vorgezogene Präsidentschaftswahlen angesetzt, welche die Opposition als nicht verfassungskonform ansah. Wenig überraschend ging Nicolás Maduro als Sieger dieser Wahlen hervor. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 46 Prozent. Ein Großteil der Opposition boykottierte die Wahl, und verschiedene ausländische Regierungen – darunter die USA, Deutschland und viele lateinamerikanische Länder – kritisierten die Stimmabgabe bereits im Vorfeld als unglaubwürdig und intransparent.
Die Frist 72 Stunden gab Nicolás Maduro am Mittwoch US-Diplomaten, um Venezuela zu verlassen. Donald Trump hatte zuvor Juan Guaidó als Interimspräsidenten anerkannt. Die USA kündigten an, ihre Diplomaten nur teilweise abzuziehen. Für Samstag forderten sie ein Krisentreffen des UN-Sicherheitsrats.
Die Warnung Vor „katastrophalen Konsequenzen“ warnte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, am Freitag. Regierung und Opposition müssten sofort Gespräche beginnen und eine friedliche Lösung anstreben.
Währenddessen verschlechterte sich die wirtschaftliche und humanitäre Situation der Venezolaner dramatisch. 2018 betrug die Inflation 1,3 Millionen Prozent, für 2019 rechnet der Internationale Währungsfonds mit einer sogenannten Hyperinflation von 10 Millionen Prozent. Viele Menschen, die nur den staatlichen Mindestlohn beziehen, konnten sich kaum noch die nötigsten Lebensmittel leisten. Schon im August 2018 hatte Präsident Maduro versucht, die Inflation über eine Währungsanpassung in den Griff zu bekommen.
Gebracht hat das nichts, im Gegenteil. Bereits im vierten Jahr schrumpft die Wirtschaft im zweistelligen Bereich, und ein Großteil der Lebensmittel und Waren muss aus dem Ausland importiert werden, da die nationale Produktion längst eingebrochen ist. Viele Venezolaner haben inzwischen das Land verlassen, allen voran junge Menschen. 2018 flohen viele in die Nachbarländer Kolumbien und Brasilien sowie nach Ecuador und Peru. Laut Angaben der Vereinten Nationen sollen seit 2015 rund 1,6 Millionen Venezolaner das Land verlassen haben: der größte Massenexodus in der Geschichte Südamerikas.
Noch steht die Armee hinter Maduro
Vor diesem Hintergrund wurde Nicolás Maduro am 10. Januar 2019 vor dem Obersten Gericht für eine zweite Amtszeit vereidigt. Die Opposition erkennt seine Präsidentschaft nicht an. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, nach der das Parlament die Exekutivgewalt übernimmt, sollte es keinen Präsidenten geben. Diesen Fall sahen die Abgeordneten der oppositionellen Nationalversammlung mit Ablauf der ersten Amtsperiode Maduros als gegeben an – und riefen darum am vergangenen Mittwoch Juan Guaidó als Interimspräsidenten aus.
Unterstützung bekam Guaidó von der venezolanischen Bevölkerung, die zu Zehntausenden Zeugen seines öffentlichen Amtseides wurde. Nur kurze Zeit später meldete sich US-Präsident Donald Trump auf Twitter zu Wort und erkannte Juan Guaidó als legitimen Präsidenten Venezuelas an. Ihm taten es zahlreiche Staaten und Bündnisse gleich, unter anderem die Europäische Union.
Nach seiner Rede verschwand Juan Guaidó. Unterdessen sind neue Proteste entflammt, die teilweise brutal niedergeschlagen werden und laut Angabe von Aktivisten bisher beinahe 30 Tote gefordert haben. Entscheidend in diesem Konflikt bleibt das Militär.
Verteidigungsminister Vladimir Padrino hatte zwar bekräftigt, dass die Armee hinter Nicolás Maduro als Staatschef stehe. Mittel- und niederrangige Militärs sind von der Krise jedoch genauso betroffen wie der Rest der Venezolaner. Immer häufiger gibt es kleinere Aufstände in den Reihen der Armee, eine hundertprozentige Unterstützung Maduros besteht also nicht. Klar ist derzeit nur: Venezuela hat zwei Parlamente, zwei Oberste Gerichte und zwei Präsidenten. Leidtragend ist dabei vor allem die Bevölkerung.
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