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Lordes neues Album „Virgin“Röntgenstrahlen der Liebe

„Virgin“ heißt das neue Album von Lorde. In dessen 1.000 Mal hörbaren Songs hat sich der neuseeländische Popstar den Frust von der Seele geschrieben.

Bei ihr ist Pop pure Kunstform: die neuseeländische Musikerin Lorde Foto: Thistle Brown

Das Cover des neuen Albums „Virgin“ des Popstars Lorde, es ist wirklich ungewöhnlich. Zu sehen gibt es ein blau getöntes Röntgenbild, es zeigt den Unterleib der 29-Jährigen inklusive ihrer Spirale sowie ihres Knochenbaus. Hat diese Durchleuchtung etwa einen medizinischen Grund? Falls nicht, was ist der Symbolcharakter des Coverfotos?

Die Antwort liefert die in New York lebende neuseeländische Künstlerin in Form ihrer neuen Songs, die gehen nämlich unter die Haut. Lorde interpretiert Popmusik als Kunstform ohne Netz und doppelten Boden. Mit jedem Lied lässt sie scheinbar noch tiefer in ihr Inneres blicken, Schicht für Schicht schält sie aus den Texten ein glaubwürdiges Wesen heraus.

Das Album

Lorde: „Virgin“ (Universal), erschien am 27.6.2025

Bereits im Auftaktsong „Hammer“ spricht Lorde eine Art Gleichnis aus: „Some days, I’m a woman, some days, I’m a man, oh / I might have been born again / I’m ready to feel like I don’t have the answers“. Eine Art Entdeckungsmoment für die Musikerin, geboren im neuseeländischen Takapuna. Wie eine Sokratikerin gesteht sie sich ein, dass sie im Grunde nichts Genaues weiß, aber Songs schreiben, das kann sie: Dafür schickt Lorde metallisch scheppernden Synthesizer ihrem suchenden Ich auf die Spur. Und so beginnt eine reizvolle Sinnsuche.

Obwohl Lorde sich bisher als weiblich definiert, scheint sie eine eindeutige Geschlechtszuordnung nicht mehr unbedingt zeitgemäß zu finden. Sonst hätte sie sich wohl nicht mit getapter Brust bei der diesjährigen Ausgabe der Met Gala in New York gezeigt – wie ein trans* Mann.

Plattencover mit Spirale und Reißverschluss Foto: universal

Das Maskuline bahnt seinen Weg aus ihr heraus

Obendrein gibt es auf dem neuen Album den aussagestarken Song „Man of The Year“. „My babe, can’t believe I’ve become someone else / Someone more like myself“, staunt die Künstlerin im Songtext, als sich das Maskuline zum ersten Mal seinen Weg aus ihr heraus bahnt. Sie resümiert: „Now I’m broken open“. Der Songtext wird musikalisch dementsprechend feierlich inszeniert. Was,wie eine Ballade beginnt, wird schließlich von Synthie-Pop abgelöst.

Die pompöse Musik unterstreicht, dass die Synthese von elektronischen Klangerzeugern und akustischen Instrumenten bestens funktioniert. Der kohärente Sound ist Alleinstellungsmerkmal von „Virgin“, er passt perfekt zu den fast schon intimen Songtexten. Natürlich darf auch ein Schwangerschaftstest nicht fehlen: In „Clearblue“ heißt es: „After the ecstasy / Testing for pregnancy“.

Den vielleicht tiefsten Einblick in die Künstlerinnenseele liefert der Shapeshifter. Wenn Lorde sich mit ihrer eigenen Sexualität und irgendwelchen One-Night-Stands beschäftigt, erschreckt man regelrecht, wie nah sie die Hö­re­r:in­nen an das Text-Ich heranlässt.

Wer in ihren Song „Favourite Daughter“ eintaucht, kann sich ein Bild davon machen, dass Lordes Verhältnis zu ihrer Mutter nicht völlig unkompliziert zu sein scheint. Mit der für sie typischen Direktheit bekennt die Sängerin: „'Cause I’m an actress, all of the medals I won for ya / Panic attack just to be your favourite daughter“. Während Lorde ihre seelischen Wunden offenlegt, galoppieren peitschende Beats in die entgegengesetzte Richtung. Aus dieser Verschmelzung entsteht ein spannender Kontrast.

Eine große Portion Schmerz im Finale

Im Finale, „David“, steckt eine große Portion Herzschmerz. „Am I ever gon’ in love again?“, fragt Lorde. Sie erzählt, wie sie von einer anderen Person dominiert und geformt wurde. Das Ganze kulminiert in der Aussage: „I don’t belong to anyone, ooh“. In diesen Worten flackert Melancholie, vielleicht sogar Einsamkeit auf. Genauso könnten sie jedoch als ein Akt der Selbstermächtigung gelesen werden – nach dem Motto: Ich gehöre niemandem außer mir selbst.

Auf jeden Fall ist „Virgin“ ein kathartisches Popalbum. In ihren neuen Liedern hat sich Lorde anscheinend den Frust von der Seele geschrieben. Das hat ihr bestimmt gut getan und macht möglicherweise auch solchen Fans Mut, die gerade selbst in einem Transformationsprozess stecken.

Aber auch beim oberflächlichen Hören wirken diese eingängigen Songs wie eine kalte Brause, die einen erfrischt aus diversen Wechselbädern herausholt. Lorde landet Wirkungstreffer, indem sie pointierte Texte über private Krisen liefert. „Virgin“ macht klar, dass sich Lorde künstlerisch mehr zutraut als zu Beginn ihrer Karriere.

Ihr Debütalbum „Heroine“ (2013) war das Ausrufezeichen einer Teenagerin auf dem Weg zum Erwachsensein. Nun ist Lorde eine junge Frau mit Erfahrungsschatz, aus dem sie kreativ schöpft. Ihre Songs klingen berührend und intensiv. Mit anderen Worten: Pop, den man immer wieder hören kann.

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