Löw bleibt Bundestrainer: All you need is Löw
Er hat gezeigt, dass radikale Reformen das einzige Mittel sind, um den Problemen der Realität beizukommen. Nur hat Jogi Löw sie 2016 unterbrochen.
Was war das für ein Moment, als Antoine Griezman in ein Interview seines Kollegen Kylian Mbappé stürmte und „Vive la France“ rief! FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube war hin und weg von diesen Franzosen, der Leichtigkeit und Freiheit ihres Spiels und ihres Patriotismus.
Bei uns, das ist der Tenor, ginge das ja alles gar nicht. Außerdem haben wir nur Özil. Allerdings sollte man nicht unterschlagen, dass Griezman auch „Vive la République“ brüllte, also ein Verfassungspatriot wäre, wenn man solche Ekstase-Geräusche von glücklichen Siegern wirklich ernst nehmen wollte.
Grundsätzlich haben wir aber schlechte Laune. Alles schlimm. Und jetzt auch noch die Nationalmannschaft. Diverse Leute und Medien huldigen gerade wieder dem Irrglauben, es gebe einen kausalen Zusammenhang zwischen der Lage eines Staates und dem Erfolg oder Misserfolg seines Verbandsfußballteams bei einem Sommerfußballturnier namens WM. Hier die Bundeskanzlerin, dort der Bundestrainer, bei beiden läuft’s nicht mehr, da haben wir’s doch.
Das ist Quatsch. Es gibt Gleichzeitigkeiten, und Frankreich ist die europäische Gesellschaft des Aufbruchs – Deutschland nicht. Aber selbst Daniel Cohn-Bendit würde sich hüten, zu behaupten, Macrons politisches Projekt und Deschamps’Fußballprojekt stünden in einem inhaltlichen Zusammenhang. Obwohl: Sicher bin ich nicht.
Die Analogie zwischen Merkel und Löw soll jedenfalls darin bestehen, dass beide „selbstherrlich“ geworden seien, sich für unersetzbar“ hielten und ihren alten Stiefel für das Nonplusultra. Stimmt halt auch nicht. Löw, 58, ist ein radikaler Realist im Sinne des Grünen-Bundesvorsitzenden Robert Habeck. Er hat die Mythen abgeschafft, die Wirklichkeit des internationalisierten Fußballs durchdrungen, um in dieser Wirklichkeit erfolgreich zu sein, und das ist ihm bei sechs von sieben Turnieren gelungen.
Einige Jahre hat er auch noch Fußball spielen lassen, der schön war und sich emotional großartig anfühlte. Sehr viel mehr geht echt nicht.
Leben und leben lassen
Die Kanzlerin Merkel dagegen hat die Deutschen in deren Auftrag möglichst umfassend von der Wirklichkeit abgeschirmt und verschwiegen, dass es nicht die tollen deutschen Tugenden oder gar humanistischen Werte sind, die für Wohlstand und Tralala sorgten, sondern die infrastrukturellen, geografischen und globalpolitischen Konstellationen. Die Autokonzerne, als sichtbarste Branche, und die Politik haben zusammen dafür gesorgt, dass das Heute verlängert wurde auf Kosten des Morgen, aber das kann man Jogi Löw nicht anlasten, weil die deutschen Fußballschulen die nähere Zukunft bereits produziert haben.
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Es hat schon auch etwas Bizarres, Löw vorzuwerfen, die hochqualifizierten älteren Mitarbeiter nicht längst rausgeschmissen zu haben. Oder seine Rechte als Arbeitnehmer in Anspruch zu nehmen, wenn man es schon nicht als Tugend sehen will, dass er zu seinem laufenden Vertrag steht. Und: Satt, selbstzufrieden, routiniert, unkreativ, nur den alten Stiefel herunterreißend, aber mit Sonnenbrille schön aussehen wollen?
Nehmen wir nur mal testhalber an, was Löw vorgeworfen wird, sei in Wahrheit das Spiegelbild der Leute, die ihm das vorwerfen. Und die nun auch reflexhaft verlangen, der Bundestrainer müsse sich „neu erfinden“, wenn er schon nicht den Anstand habe, abzuhauen. Erfindet euch doch selbst neu, kann man da nur sagen. Da habt ihr gut zu tun.
Es gibt in der Sportgeschichte andere ganz Große, die tatsächlich ihren Stil radikal geändert haben, um in einer neuen Phase weiter erfolgreich zu sein. Muhammad Ali in Zaire etwa. Man kann aber auch mit guten Argumenten eine Amtszeitbegrenzung für solche Topjobs befürworten, schon weil die große Innovationsphase eines Fußballtrainers auf etwa acht Jahre begrenzt ist. Jürgen Klopp ist auch schon drüber. Dennoch kann man weiter erfolgreich sein.
Wenn Joachim Löw ein Symbol für etwas ist, dann ist er das Symbol eines liberalen, emanzipierten, weichen Deutschlands – eher unpolitisch, aber auf eine angenehme Art. Leben und leben lassen.
Kein Totalsanierungsbedarf
Er ist aber auch der Beweis, dass radikale Reformen das einzige Mittel sind, um den Problemen der Realität beizukommen. Dieses Projekt hat der Bundestrainer 2016 unterbrochen. Vermutlich, weil er damals dachte, die Entwicklung sei bis auf Weiteres tragfähig. Und dieses Projekt könnte er nun wieder aufnehmen auf der Grundlage von Voraussetzungen, die in Deutschland immer noch deutlich besser sind als in anderen Ländern.
Wir sprechen hier nicht im Entferntesten von einem Totalsanierungsbedarf wie 2004, als Klinsmann und Löw kamen. Es ist schon viel gewonnen, wenn der Trainer den zentralen Irrtum der WM behebt, einen starken Sechser einbaut und damit den Raum zwischen den Weltklassespielern Mats Hummels und Toni Kroos strukturell dicht bekommt.
Dringlicher aber ist die zeitgleiche Neuerfindung der demokratischen Parteien, der sozialökologischen Wende und der Verteidigung der offenen europäischen Gesellschaft.
Das kann aber nicht Jogi Löw, das müssen wir schon selbst angehen.
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