
Live-Folge vom taz Panter Preis Halle : Wer erzählt hier eigentlich welche Geschichten?
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Mit welchem Selbstverständnis schreiben junge Autor*innen heute über Ost und West? Über Herkunft und Aufarbeitung erzählen Alice Hasters und Aron Boks.
In der aktuellen Ausgabe von „Mauerecho“ spricht Dennis Chiponda live auf der Verleihung des taz Panter Preises im Peißnitzhaus in Halle mit der Autorin und Journalistin Alice Hasters („Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ und „Identitätskrise“) sowie dem Schriftsteller und Slam-Poeten Aron Boks („Nackt in die DDR“). Gemeinsam diskutieren sie, welche Rolle Herkunft und familiäre Prägung für die eigene Identität spielen. Mit welchem Selbstverständnis schreiben junge Autor*innen heute über Ost und West? Und was bedeutet es überhaupt, west- bzw. ostdeutsch zu sein?
Identität ist laut Hasters immer kontextabhängig. Auf der Bühne stehe sie als Schwarze Frau aus dem Westen, während Boks sich als weißer Nachwende-Cis-Mann aus dem Osten versteht. Für ihn habe die Kategorie „ostdeutsch“ lange keine Rolle gespielt. Das habe sich erst 2021 durch die Recherche zu seinem Buch „Nackt in die DDR“ und die Auseinandersetzung mit seinem Urgroßonkel, dem DDR-Maler und Kulturfunktionär Willi Sitte, geändert.
Auch Hasters hat sich erst in ihrem letzten Buch intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt und festgestellt: Der gesamte Westen befinde sich in einer Identitätskrise. „Der Westen als Geschichte, als System, als Rahmen, in dem wir uns bewegen, weist viele Risse, Brüche und Widersprüche auf.“ Versteht man Identität als eine Geschichte, die man sich selbst erzählt, so sei die Identitätskrise die Erkenntnis, dass diese Geschichte nicht mehr stimmig ist.
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Für Boks ist eine solche Geschichte die Erzählung, dass das Ost-West-Thema für junge Menschen keine Relevanz mehr habe. Dabei sei es gerade spannend zu beobachten, dass es das eben doch tue. „Ich glaube gar nicht, dass das wirklich Ignoranz ist oder feindlich gemeint, sondern eher der Wunsch: ‚Das muss doch für euch keine Rolle spielen‘“, sagte Boks.
„Die Aufarbeitung braucht zwei Generationen“
Außerdem geht es um Aufarbeitung und Verdrängung. Warum stellen gerade Angehörige der Nachwendegeneration die Forderung, die DDR müsse aufgearbeitet werden? Chiponda stellt die These auf, dass es immer zwei Generationen brauche, bis Geschichte aufgearbeitet werden könne. Für seine Eltern, die die DDR miterlebt haben, sei es eine Überlebensstrategie gewesen, Vergangenes loszulassen.
Boks berichtet, dass auch in seiner Familie die Bereitschaft, über die DDR zu sprechen, mit der Zeit gewachsen sei. Man habe die Diktatur in der Familie hinter sich lassen wollen. Hasters ergänzt, dass die Aufarbeitung jüngerer Geschichte für sie als Westdeutsche kein drängendes Thema gewesen sei. Im Westen gehe es eher um die immer noch bestehenden Kontinuitäten zum Nationalsozialismus.
Trotzdem stellt sie Gemeinsamkeiten zwischen sich und Boks fest: Sie sei 1989 geboren und mit der Vorstellung aufgewachsen: „Hier ist das Ende der Geschichte.“ Ihre Generation müsse sich mit dieser nicht mehr beschäftigen. Auch sie kenne den Widerstand einer Elterngeneration, die dem Hinterfragen dieser Idee von Postgeschichtlichkeit mit Skepsis begegne.
Aron Boks, Schriftsteller und Slam-Poet
Ein weiteres Thema: die fehlende Sensibilisierung für strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West. Hasters erzählt, dass auch im feministischen oder antirassistischen Diskurs oft der Blick in den Osten fehle. Die Erfahrungen in Ost und West seien nicht deckungsgleich. Boks ergänzt, dass er bei seinen Eltern, die beim Mauerfall am Ende ihrer Schulzeit standen, Anpassungsmechanismen beobachte. Nach dem Ende der DDR hätten diese auch einfach westlich sein wollen. In seinem Aufwachsen sei wenig Raum gewesen, seine ostdeutsche Prägung überhaupt festzustellen. „Ich habe, obwohl ich aus der Gegend komme, viel von dem übernommen, wie auf den Osten geschaut wird.“
Gleichzeitig merke Boks aber auch, dass inzwischen immer mehr Nachwendekinder aus dem Westen Interesse am Osten zeigen. „Die Gegenwart verlangt es aber auch“, wirft Hasters ein. Es sei gerade nicht einfach nur ein persönliches Verlangen, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit.
„Es braucht eine dritte Geschichte“
Wie soll die junge Generation von Autor*innen mit der jüngeren Geschichte umgehen? „Es braucht jetzt eine dritte Geschichte, die die Gegenwart besser erklärt“, fordert Hasters. Das bedeute auch, dass unterschiedliche Perspektiven besser in diese Geschichte integriert werden müssen. Für Boks liegt im gesellschaftlichen Ringen um Antworten auf den Rechtsextremismus eine zentrale Chance: „Ich mag das Wort ‚Einheit‘ nicht, aber wenn es etwas Gemeinsames gibt, dann ist es, sich diese Frage zu stellen: Was ist eigentlich gerade los? Warum sehen wir eine Stärkung von Diskriminierung und Hass? Und was hat das mit der AfD zu tun?“
„Mauerecho – Ost trifft West“ ist ein Podcast der taz Panter Stiftung. Er erscheint jede Woche Sonntag auf taz.de/mauerecho sowie überall, wo es Podcasts gibt. Das Format „Der Nachwendekindertalk“ erscheint alle zwei Wochen. Besonderen Dank gilt unserem Tonmeister Daniel Fromm.
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