Literaturfest München: Wo ist der russische Brecht?
Das Literaturfest München stand unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine. Autoren kommen direkt von der Front.
Was zeichnet die ukrainische Seele im Vergleich zur russischen aus? Diese Frage beantwortet der Schriftsteller Andrej Kurkow auf dem Münchner Literaturfest recht eindeutig: „Wir Ukrainer sind keine Fatalisten, sondern verrückte Optimisten.“ Eine gesunde Portion jenes Optimismus muss auch Tanja Maljartschuk, Kuratorin des diesjährigen „Forum Autoren“, besessen haben.
Bis kurz vor Festivalbeginn stand nämlich nicht fest, ob es tatsächlich auch alle eingeladenen ukrainischen Schriftsteller:innen bis nach München schaffen würden. Unsicher war besonders das Kommen der ukrainischen Männer im wehrfähigen Alter. In dieser Hinsicht ging schließlich alles gut. Die Teilnehmer der geplanten Veranstaltungen kamen rechtzeitig in München an.
Der derzeit bekannteste ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow begegnete bei der Veranstaltung mit dem Titel „Jede Diktatur stiehlt einem das Leben“ der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Ein Aufruf zur Beendigung des russischen Bombardements der syrischen Stadt Aleppo hatte die beiden schon im Jahr 2016 zusammengebracht. „Aleppo und Mariupol müssten heute eigentlich Partnerstädte sein“, bemerkt Kurkow nun.
Krieg und Bücherschreiben geht kaum
Der 61-jährige Schriftsteller plant so bald wie möglich wieder in die Ukraine zu reisen. Zurück nach Kiew, wo sich seine Frau im Moment aufhält. Zum Schreiben komme der noch im Leningrad der Sowjetunion Geborene, doch in der Ukraine Aufgewachsene im Moment kaum: „Kriegsalltag und Bücherschreiben passen nicht zusammen“.
Bestimmendes Thema des Gesprächsabends sollten die Diktaturerfahrungen beider Gäste sein. Herta Müller berichtet von der Zeit ihrer Flucht aus dem Rumänien Ceaușescus. Auch von ihrem Überlebenswillen dort: „Je mehr man gegen etwas lebt, desto lieber lebt man.“ Kurkow vom „antisowjetischen Club“ in der Küche seines Elternhauses, von den Ausmaßen der Geheimdienstdiktatur sowie von der Gefangenschaft seines Bruders im Straflager.
Der Autor, zuletzt erschien von ihm „Tagebuch einer Invasion“, nutzte die Gelegenheit auf der Bühne zum Appell: Deutschland müsse sich intensiver mit der ukrainischen Kultur auseinandersetzen. Die Bemerkungen des Moderators, dass dies doch längst geschehe, pariert Kurkow gelassen und teilt noch in Richtung der exilrussischen Intelligenz aus, von der im Moment kaum etwas zu hören sei, außer Schweigen.
Warum schweigen sie?
Entlang der Formulierungen eines anderen ukrainischen Autors, des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan, der diese Woche auf dem Literaturfest erwartet wird, formulierte Kurkow die Frage: „Wo ist der russische Brecht?“
Die Reihe „Forum Autoren“ bringt unter dem Motto „frei sein – Mitteleuropa neu erzählen“ Schriftsteller:innen aus verschiedenen Ländern, nicht nur aus der Ukraine, aufs Literaturfest. So auch den aus Bulgarien stammenden Georgi Gospodinow. In seinem dystopischen Roman „Zeitzuflucht“ setzt er sich mit den Verlockungen einer vergangenheitsverklärenden Politik auseinander. Im Roman endet alles mit einem grausamen Reenactment der Geschichte, einem erneuten großen Krieg.
Auf die Frage, seit wann sich in der Wirklichkeit das politische Klima verändert habe, konstatiert der Bulgare, „wir leben seit 2016 nicht mehr in derselben Zeit“. Gospodinow warnt bei seinem Auftritt vor den Gefahren des Nationalismus, der seit Trumps Betreten der politischen Bühne besonders reüssiere. „Wir haben das Gefühl für die Zukunft verloren“, so Gospodinow. Der Nationalismus ernähre sich vom Vergessen. In diesem Sinne sei auch Putins Angriff auf die Ukraine ein Krieg der Vergangenheitssehnsucht.
Autoren in der Armee
Seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar ist für die beiden ukrainischen Schriftsteller Artem Tschech und Artem Chapeye nichts mehr wie zuvor. Beide dienen im Moment in der ukrainischen Armee, beide sind im Kampfeinsatz. Tschech hatte bereits im Buch „Unter Null“ von der Frontlinie im Osten der durch Separatisten besetzten Gebiete berichtet. Der Band ist soeben auf Deutsch erschienen. Chapeyes Kurzgeschichte „The Ukraine“ wurde jüngst im New Yorker publiziert.
Auf der Bühne in der übervollen Bibliothek des Münchner Literaturhauses sitzen beide nebeneinander, Chapaye in Uniform. Gerade noch rechtzeitig hat er die Ausreisegenehmigung der Behörden erhalten – das kuratorische Kalkül von Tanja Maljartschuk ging also auf. Während der Lesung der Texte ist es still im Publikum. Der Sound dieser beiden Vertreter einer neuen ukrainischen Schriftstellergeneration zielt hart und direkt ins Zentrum der Emotion.
Von ihrem Einsatz an der Front berichten sie differenziert und kritisch – undenkbar, dass russische Soldaten das im Ausland dürften. Als Chapeye mitteilt, „ich hatte Angst, dass der Krieg mich brutal machen würde, er hat mich aber noch sensibler gemacht“, halten einige im Publikum inne. Die Befindlichkeiten so mancher deutscher Intellektueller bleiben an diesem Tag draußen vor der Tür. Drinnen wird einfach nur zugehört. Was für ein stiller, sensationeller Abend, an dem die Ereignisse in der Ukraine ganz nah scheinen, und doch kein bisschen begreiflich.
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