Liebe für die Schotten: Einfach mal Inselvölkchen sein
Auf Social Media wurden rund ums Eröffnungsspiel die Schotten abgefeiert wie einst Island. Warum lieben die Deutschen niedliche Völkchen so?
Die Schotten rocken. Da sind sich die Deutschen einig. Rund ums Eröffnungsspiel fluteten Bundesbürger:innen Social Media mit „OMG wie lustig sind die Schotten“-Videos und Liebeserklärungen an die Tartan Army. Unter den Favoriten in Dauerschleife: Videos von Dudelsackparaden, von besoffenen Männern, die auf Tischen tanzen, von überforderten Moderator:innen in schottischen Feiertrauben und natürlich Schotten, die Deutschland (uns!) auf dem Dudelsack abfeiern. „Man muss die Schotten einfach mögen“, seufz.
Sie werden verlässlich von uns Deutschen geliebt, die Schotten. Genauso wie die Isländer, ein anderes niedliches Völkchen aus dem Norden, das so schön folkloristisch, stimmungsvoll und als guter Verlierer daherkommt. Diese Punkte sind nämlich besonders wichtig, um Herzen zu erobern. Grölende Nordeuropäer sind authentisch, so positiv und einfach tolle Gäste – Südeuropäer mit Autokorsos gehen gar nicht, diese aggressiven Türken vor allem. Auch wichtig ist, dass diese lustigen Leute keine ernsthaften sportlichen Konkurrenten sind. Die niederländische Oranje-Army findet der gemeine Deutsche deutlich weniger „Oh, sweeet“ als Schotten, Isländer oder zur Not auch mal Albaner. Und drittens hilft, wenn die Lieblingsfans viel saufen, denn das finden die Deutschen super lustig.
Die Liebe zu den schottischen Feierbiestern, das ist ein Alle-Jahre-wieder-Fluchtversuch aus dem eigenen unbequemen Nationaldasein, ein ritualisierter deutscher Selbsthass. Die liebste deutsche Disziplin. Mancher soll sich schon einen Schland-Schottenrock geholt haben. Bei den anderen, da ist nämlich alles so unkompliziert. Wer will nicht gern einmal ein kleiner Inselstaat sein, der (really?) nicht viel Böses getan hat in der Welt und so unbeschwert verliert?
Europameisterlicher Spagat
Es ist ein schon europameisterlicher Spagat, wie die Tartan Army links wie rechts bezaubert. Linke schwärmen auf X über eine Fangemeinde „ohne Patriotismus“, angeblich so ganz anders als hier, und dann noch Männer im Rock! Ohne Patriotismus? Dieser Highlander-Folkloretrupp mit quietschendem Nationalinstrument und dem Lieblingsgesang „Wir hassen England mehr als ihr“? Da braucht es schon viel Fantasie. Rechte wiederum begeistern sich gerade an diesem gesunden Nationalstolz der weißen Kerle, und dann singen sie noch die deutsche Hymne! „Sogar Schotten feiern Deutschland mehr als Links-Grün-Woke“, heißt es auf X gerührt. Danke, Schottland, dass ihr euch um die nationale deutsche Sache kümmert!
Das größte Erfolgsgeheimnis der niedlichen Folklore-Völkchen ist nicht ihre ja zugegeben ziemlich gute Stimmung. Sondern, dass sie quer durch alle Lager eine so gute Projektionsfläche abgeben. Darauf noch ein Bier!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt