Libanon nach der Beirut-Katastrophe: Regierungskrise nach der Explosion
Im Libanon beginnt die Suche nach einem Ministerpräsidenten. Im Gespräch ist ein derzeitiger Richter am Internationalen Gerichtshof.

Im Gespräch seien Nawaf Salam, ein derzeitiger Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, sowie Mohammed Baasiri, ehemaliger Vizegouverneur der Zentralbank, berichtete die emiratische Tageszeitung The National unter Berufung auf eine nicht namentlich genannte Quelle. Die schiitische Hisbollah wird die Vorschläge wohl ablehnen, weil ihr die Kandidaten zu eng mit den USA verbündet sind.
Im politischem System des Landes ist der Ministerpräsident immer ein Sunnit, um den religiösen Proporz zu sichern. Der Parlamentssprecher ist Schiit, der Präsident maronitischer Christ. Der Vorschlag für einen neuen Ministerpräsidenten aus den Konsultationen geht dann zur Abstimmung ins Parlament. Bekommt er das Vertrauen, kann der neue Regierungschef sein Kabinett bestimmen.
Das Prozedere dauert in der Regel Monate – Zeit, die der Staat nicht hat. Die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro, die Coronafallzahlen schnellen in die Höhe und die Menschen fordern eine unabhängige Aufarbeitung der Explosion in Beirut am vergangenen Dienstag.
Gesamtes Kabinett bleibt vorerst im Amt
Obwohl vor Regierungschef Hassan Diab bereits mehrere Minister*innen zurückgetreten waren, bleibt das Kabinett zunächst vollständig geschäftsführend im Amt. Es wird sich jedoch selten treffen und nur eilige Gesetze in die Wege leiten – wohl aber kaum ein notwendiges Reformpaket, das den Weg frei machen würde für Gelder des Internationalen Währungsfonds (IWF) und den Libanon damit aus dem Staatsbankrott führen könnte.
Es ist bereits das zweite Mal innerhalb eines Jahres, dass der Libanon einen Regierungschef sucht. Diab war erst im Januar mit einer Technokrat*innen-Regierung angetreten, nachdem Vorgänger Saad Hariri als Antwort auf Massenproteste im Oktober 2019 zurückgetreten war. Analyst*innen zufolge soll mit Diabs Rücktritt der Weg frei sein für eine nationale Einheitsregierung, die von allen großen Parteien im Land getragen wird. Die Idee unterstützen auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der IWF. Dessen Ökonomen hatten Libanons politische Elite schon vor der Explosion zur „Einheit“ ermahnt.
Diab hatte vor seinem Rücktritt eine Neuwahl des Parlaments vorgeschlagen. Konstitutionell ist eine solche nicht notwendig. Für die Protestierenden ist sein Rücktritt daher unbedeutend. Noch am Montagabend riefen sie vermehrt Beleidigungen gegen Aoun und forderten die Auflösung des Parlaments. Einige sind der Ansicht, dass Aoun und dem Parlament nicht vertraut werden kann, einen Regierungschef zu ernennen, der ihre Interessen vertritt.
Nach der Explosion – Eine Familie in Beirut
Die Aktivist*innengruppe LiHaqqi twitterte: „Die einzige Lösung ist eine vom System unabhängige Übergangsregierung, die ihre Legitimität vom Volk ableitet.“ Andere befürchten, eine Parlamentsauflösung würde weitere politische Lähmung bedeuten. Einig sind sich die Protestierenden in ihrer Forderung nach einem neuen politischen System.
Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters hatten Sicherheitsexpert*innen Diabs Regierung sowie Präsident Aoun erst am 20. Juli in einem Brief vor dem Ammoniumnitrat in Beiruts Hafen gewarnt. Die Explosion untersuchen soll nun Militärrichter Fadi Akiki, der zum Beauftragten für den Justizrat ernannt wurde. Akiki ist mit der Nichte des einflussreichen Parlamentssprechers Nabih Berri verheiratet.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine
„Wir sind nur kleine Leute“
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Extremismus bei Alemannia Aachen
Der rechte Flügel