Levin Westermann „Zugunruhe“: Neben dem Fuchs liegen

In seinem neuen Buch „Zugunruhe“ möchte Levin Westermann die Landschaft und die Tiere begreifen und sehnt das Verschwinden der Menschheit herbei.

Strae sammeln sich auf einer Stromleitung

Der Begriff „Zugunruhe“ beschreibt die Nervosität von Zugvögeln, bevor sie aufbrechen Foto: Zoonar/imago

Wenn Levin Westermann die Augen schließt, kann er den toten Fuchs sehen. Vor Jahren hatte er ihn bei einem Spaziergang unter einem Baum gefunden, ein großes Tier, zwei lange dunkle Regenwürmer waren über sein Fell gekrochen, „glänzend und feucht auf rotem Grund“.

Westermann hatte sich nicht gefürchtet oder geekelt, er hatte stattdessen plötzlich den starken Wunsch verspürt, sich danebenzulegen, „um so zum Teil der Landschaft zu werden, denn ich hatte wie noch nie zuvor verstanden, dass meine Präsenz nicht nötig war auf Erden, dass die Autos fahren und die Bäume wachsen und die Würmer kriechen würden, ganz ohne mich“.

Der Autor erzählt hier nicht allein von sich selbst, sondern möchte sich auch stellvertretend für seine Gattung zum Fuchs legen. Gar nicht heimlich sehnt er das Verschwinden der Menschheit herbei, zeigt sich fasziniert von Geschichten über Wolfsrudel in den Wäldern von Tschernobyl, von Eisbären, die eine verlassene Wetterstation in der Arktis bewohnen, von einem kleinen Roboter, der auf dem Mars durch ein ausgetrocknetes Flussbett rollt.

Westermann, man weiß das schon aus früheren Büchern, argumentiert sehr vehement für Natur- und Tierschutz, er gehört aber wohl nicht zu jenen, die sich für „die Zukunft“ einsetzen, jedenfalls nicht für eine des Menschen. So freundlich sich der 1980 in Meerbusch geborene Schriftsteller mit gelegentlich in seinem Buch auftauchenden Freunden auseinandersetzt, so offenbar ist doch, dass sein moralisches Interesse anderen Lebewesen gilt.

Levin Westermann: „Zugunruhe“. Matthes & Seitz, Berlin 2024. 192 Seiten, 22 Euro

Schneckenanatomie und radioaktive Kühe

Die Anatomie der Schnecken fasziniert ihn, das Schicksal radio­aktiv kontaminierter Kühe weckt sein Mitleid, Experimente mit Ratten und Affen machen ihn wütend und traurig. Seine Fantasien über eine Erde ohne Homo sapiens erinnern hingegen an die Beruhigung, die manche depressiven Personen verspüren, wenn sie sich ihren eigenen Tod vorstellen.

„Zugunruhe“ heißt Westermanns Buch, das der Verlag einen Roman nennt, das man aber auch als Sammlung autofiktionaler Essays bezeichnen darf. Der Begriff beschreibt die Nervosität von Zugvögeln, bevor sie aufbrechen. Auch der Erzähler ist viel unterwegs. Mit der Bahn fährt er durch Deutschland und die Schweiz, geht spazieren, erkundet Naturparks. Immer wieder versucht er sich an einer Auftragsarbeit über „die Landschaft“, die ihn überfordert, sei das Thema doch zu groß, um etwas Substanzielles beizutragen.

Eines Tages dann schickt er sein Material, eine beträchtliche Textsammlung, an eine Freundin, die ihm in Sekunden den Grund für sein Scheitern vor Augen hält: Er war so dumm, der Ratio zu vertrauen. All die philosophischen Definitionen und das Graben nach Bedeutung haben ihn immer nur noch weiter von der Landschaft weggetrieben.

„Wer benennt, der beherrscht und bestimmt, und je weiter wir uns vom Urknall entfernt hatten, desto stärker war das Feld geworden, das das Leben verzerrte und entstellte: die Schwerkraft des menschlichen Verstands.“ Westermann, der von der Lyrik kommt, ist eine doppelt tragische Figur: nicht nur weil er ein Mensch ist, der seine Gattung vor allem als Problem erkennt; sondern auch, weil er ein Schriftsteller ist, der mit einer Sprache arbeiten muss, die das Leben, den Boden, den Wald und den Berg nur verlegen auf irgendeinen Begriff bringt, anstatt ihn wirklich begreifen zu können.

Zeitreisen nicht möglich

Am eindrücklichsten ist sein Buch denn auch, wenn er die Überforderung seines Geistes schildert, etwa den Schwindel bei dem Gedanken, dass sich eine Umgebung, die er betrachtet, über viele Millionen Jahre geformt hat. Oder die Verzweiflung, die ihn am Hafen von Lissabon wegen der Tatsache übermannt, dass er niemals die Schiffe von Vasco da Gama sehen wird, dass man zwar durch den Raum, nicht aber in die Vergangenheit reisen kann.

Und ja, das ist nicht der schlechteste Grund für spontane Traurigkeit. Westermann, der sicher zu den sensibelsten Exemplaren seiner Gattung gehört, übergäbe man die Macht über die Dimension Zeit im Übrigen ohne Zögern. Er würde nichts Schlechtes damit anstellen.

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