Wie Zugvögel neue Routen lernen: Lieber ins nahe England ziehen

Das Wilhelmshavener Institut für Vogelforschung ergründet den Wandel von Routen und Zielen der Zugvögel. Bei einigen Arten wird das Wissen vererbt.

Ziehende Kraniche am Himmel

Poetische Schattenrisse am Himmel: Kraniche auf dem Flug gen Süden Foto: Christoph Soeder/dpa

HAMBURG taz | Woher Jungvögel wissen, wohin sie im Winter ziehen müssen? Ganz einfach: Die Eltern zeigen ihnen den Weg. Das könnte man meinen, aber für die meisten Singvögel gilt das nicht: Sie ziehen nachts und einzeln gen Süden, die Eltern schon Wochen vor den Jungen, und der Nachwuchs findet das Winterquartier trotzdem.

Herausgefunden haben das ForscherInnen des Wilhelmshavener Instituts für Vogelforschung – auf mühsame, aber effektive Weise: Statt „schwerer“ GPS-Logger, die man etwa Störchen auf den Rücken schnallt, um ihre Route quasi live über Satellit zu verfolgen, versieht man Singvögel mit winzigen Geolokatoren.

„Das sind kleine Rucksäcke, die wie Fahrtenschreiber funktionieren. Sie haben Lichtsensoren, um Tag und Nacht zu unterscheiden, dazu eine Art Stoppuhr und eine Datenplatine, die alles aufzeichnet“, sagt Miriam Liedvogel, Direktorin des Instituts. „Die Geräte wiegen weniger als ein halbes Gramm und beeinträchtigen die Vögel nicht.“

Aber man kann die Route eben nur im Nachhinein rekonstruieren und muss genau denselben Vogel nach seiner Rückkehr wiederfinden, das Gerät abnehmen und die Daten auslesen. „25 Prozent der Lokatoren kommen zurück – „für die kurzlebigen Singvögel eine sehr gute Quote“, sagt Liedvogel.

Neu erworbenes Wissen wird vererbt

Was die Daten offenbaren: Auch nicht alle Vögel einer Art – etwa der Mönchsgrasmücke – wählen im Herbst dieselbe Route: Je nachdem, wo sie brüten, umfliegen einige Alpen, Mittelmeer und Sahara östlich oder südwestlich. Erstaunlich außerdem: Ein Teil der Mönchsgrasmücken überwintert seit einigen Jahren in Großbritannien.

„Das liegt einerseits an den wegen des Golfstroms milden Wintern und den global wärmeren Temperaturen, andererseits daran, dass in fast allen britischen Gärten Vogelfutterstationen hängen“, sagt Liedvogel. „Die Vögel haben also einen kürzeren Zugweg und eine sichere Nahrungsquelle.“

Auch dieses neu erworbene Wissen gäben die Eltern über Vererbung weiter. Der Beweis: Vögel, die die Wilhelmshavener ForscherInnen getrennt von den Eltern aufwachsen ließen, suchten stets das Winterquartier ihrer Eltern auf.

Und selbst im „Kontrollversuch“ in der Institutsvoliere zeigten die Vögel nicht nur zur selben Zeit „Zugunruhe“ wie ihre frei lebenden Artgenossen, sondern hopsten in eigens konzipierten Mini-Arenen in die Richtung, in die sie ziehen würden, wenn sie könnten. Ob das nicht belastend ist für die Vögel? „Die Tiere werden nach dem Experiment wieder freigelassen“, sagt Liedvogel.

Breit gefächerte Forschung

Begonnen hat das alles vor gut 100 Jahren: 1910 wurde auf Helgoland – dem deutschlandweit einzigartigen Rastplatz Tausender Zugvögel – eine Vogelwarte gegründet, auf der man Vögel beringte, ihr Zugverhalten beobachtete und notierte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Institut, wie zeitweilig die ganze Insel – evakuiert, weil die Alliierten Helgolands vom NS-Regime hochgerüstete Militäranlagen beschossen.

1947 zog der Hauptsitz des Instituts nach Wilhelmshaven; die Zweigstelle Helgoland startete 1953 wieder. Heute ist das Institut eine außer­universitäre Forschungseinrichtung, die gemeinsam mit der Universität Oldenburg den Studiengang „Master in Biology with a focus on Ornithology“ anbietet.

„Aufgrund unser breit gefächerten Forschung, die besonders das Zusammenwirken von Umwelt und Vererbung fokussiert, sind wir auch innerhalb Europas einzigartig“, sagt Miriam Liedvogel. Und natürlich sei Helgoland, das wichtige Daten zuliefere, „ein Traum für jeden Zugvogelforscher, weil man dort auf begrenztem Gebiet beobachten kann, wie sich das Vogelzuggeschehen im Jahresverlauf, aber auch übe die Jahre hinweg verändert“.

Manche Vögel, wie die Mönchsgrasmücke, kämen heute zwei, drei Wochen früher aus dem Winterquartier zurück als vor 100 Jahren, könne so die besten Brutplätze belegen, vielleicht mehr Nachwuchs aufziehen. Langstreckenzieher wie der Steinschmätzer dagegen, die von Sibirien bis Südafrika zögen, hätten wenig zeitliche Puffer, müssten rechtzeitig im Norden ankommen, Junge aufziehen und vorm Winter wieder abfliegen. Sie könnten sich dem Klimawandel schlecht anpassen, sagt Liedvogel. Vielleicht werden sie zu dessen Verlierern gehören.

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