Leute aus dem Ghetto schmuggeln

Die Gedenkstätte Stille Helden widmet sich dem Widerstand gegen die Judenverfolgung. Geschichten vom Überleben im Versteck, von Helfern und Zufluchtsorten

Blick in die Ausstellung Stille Helden Foto: G. Engels

Von Katja Kollmann

Am 14. September 2006 saß Franz Michalski in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Publikum. Er hörte Evy Woods, geborene Goldstein, zu, die von ihrem Schicksal als untergetauchtes jüdisches Mädchen im nationalsozialistischen Deutschland erzählte. Als Woods vom Antisemitismus der frühen Nachkriegsjahre berichtete, entfuhr ihm: „Wem sagen Sie das!“ Dieser Ausruf markierte für den damals 71-Jährigen die Öffnung seiner Lebensgeschichte für die Öffentlichkeit.

Am letzten Freitag waren Franz Michalski und seine Frau Petra wieder zu Gast im Bendlerblock an der Stauffenbergstraße. Diesmal in der Gedenkstätte Stille Helden. Sie standen vor einem an die Wand projizierten Familienfoto der Familie Michalski aus dem Jahr 1941 in Breslau. Der sechsjährige Franz steht in kurzen Hosen neben seinem Vater. Der kleine Peter thront auf dessen Schultern. Im Juni desselben Jahres ist Herbert Michalski wegen seiner „nichtarischen“ Ehefrau unehrenhaft aus der Wehrmacht entlassen worden. Im Herbst 1944 musste die Familie endgültig untertauchen. Franz Michal­skis im Jahr 2013 veröffentlichte Erinnerungen enden mit einer Danksagung: „Meine Rettungsgeschichte ist der Erinnerung an unsere mutigen Helfer gewidmet: Alfons Thienelt, der Polizist; Erna Scharf, das Kindermädchen; Gerda Mez, die Arbeitskollegin; Marquis de Respaldizza, der Partisan; Horst Schneider, der Hotelier; Herr Hetschel, der Hotelier. Sie sind meine Stillen Helden.“

Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters stand dem Ehepaar gegenüber bei der Eröffnung der Neugestaltung der Ausstellung Stille Helden. Sie blickte die beiden an, die mit einer freundlichen, gelassenen Ausstrahlung vor dem Foto standen, und fragte: „Wie geht man mit der psychischen Belastung um, die nach den Jahren der Verfolgung Teil des Lebens ist?“ Petra Michalski entgegnete: „Wir sprechen darüber. Jeden Tag. Seit wir uns kennen.“

Zusammen mit Johannes Tuchel, dem Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, eröffnete Grütters die neu gestaltete Ausstellung der Gedenkstätte Stille Helden. Seit 2008 existiert dieser Ort, der an den Widerstand gegen die Judenverfolgung erinnert. Während der ersten zehn Jahre etwas beengt in der Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte neben dem Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt beheimatet, fand die erweiterte Dauerausstellung ab 2018 Platz im Bendlerblock in Berlin-Tiergarten. Wichtig wird die jetzige Neugestaltung durch die Weitung des Blicks hin zu einer gesamteuropäischen Dimension des Widerstands.

Johannes Tuchel weist auf ein aufgeschlagenes Skizzenbuch in einer Vitrine. Zu sehen ist eine Zeichnung von 1942 – von einem Versteck für bis zu zwölf Menschen. Angefertigt vom damals neunjährigen Zigfrids Lipke. Seine Eltern bauten in Lettland ein Netzwerk von über 25 Helfern auf. So konnten sie über 50 Menschen aus dem Rigaer Ghetto herausschmuggeln und verstecken, 44 überlebten. Tuchel betont die doppelte Perspektive, den Blick der Versteckten sowie der Helfenden. So ist ein Kurzfilm zu sehen, gedreht 1942/43 von elf Untergetauchten in Amsterdam. Titel: Notfallübung im Versteck. Am 28. Mai 1943 folgte eine Razzia. Aus der Notfallübung wurde nun bitterer Ernst. Nur vier Untergetauchte wurden nicht entdeckt, alle anderen deportiert.

Die doppelte Perspektive mit dem Blick der Versteckten wie der Helfenden

Im Zentrum der Ausstellung stehen sieben detailliert erzählte, mit Bildmaterial und Originalobjekten ergänzte Berichte einer erfolgreichen Rettung. Aber auch die anderen Topoi, zum Beispiel Gefahren, falsche Identitäten, Zufluchtsorte oder auch Möglichkeiten zum Protest, nehmen immer einen konkreten Fall zum Ausgangspunkt. Durch die umfangreiche Recherchearbeit werden die mannigfaltigen Formen von Widerstand anschaulich und vor allem die Menschen dahinter werden in der Ausstellung sichtbar.

Ausgestellt ist auch ein anonymer Brief aus dem Jahr 1947: „Für Sie ist schon eine Kugel gegossen. Wir kommen wieder!“ Er ist an die Berlinerin Klara Jung adressiert. Sie versteckte ab März 1943 ihren jüdischen Freund und zwei Jüdinnen.

Die Gedenkstätte Stille Helden und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas trennt circa ein Kilometer Luftlinie. Fehlt nur noch ein markierter Weg zwischen ihnen.

Gedenkstätte Stille Helden, Stauffenbergstr. 13–14, Mo. bis Fr. 9–18 Uhr, Sa. + So. und an Feiertagen 10–18 Uhr