Lesen als Flucht vor Corona: Weiter im Text
Unterwegs sein? Kann man jetzt nur noch im Text. Also kommen Sie mit, auf ein Bad im Wörter-See!
P ssst. Hallo, Sie! Leser*in! Ja, Sie. Ich hab’ hier ein Textangebot, das Sie nicht ablehnen können.
Texte sind wie Spuren, denen man folgen kann. Verkehrsmittel, die einen von A nach B bringen, oder auch nicht. Begleiter beim Flanieren durch die Auslagen von Ideen und Fantasien. Wegweiser in allerlei Wildnis. Nahrung. Droge. Willkommenes Ärgernis. Nützlich oder überflüssig. Texte sind, was Sie wollen. Und auch immer noch was anderes.
Gerade jetzt, Leser*in, brauchen Sie Texte. Wo kommen Sie schon hin ohne Texte in dieser Gemeinschaft der Isolierten? In dieser Zeit der stillen Raserei? In diesem Weltverschwinden vor Ihren Augen? Unterwegs sein, das können Sie jetzt fast nur noch mit uns. Damit Sie mal wissen, was Sie an uns Texten haben.
Ich sag’s, wie es ist: Die meisten Texte fahren nur auf den Autobahnen hin und her. Berlin, Paris, Wanne-Eickel... Von einem Textstau zur nächsten Texta-Raststelle. Links und rechts Schallschutzmauern. Texte, die nie was anderes sagen als das, was Sie je schon immer gewusst haben wollen. Laaaangweilig.
ist freier Autor und hat bereits über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm: „Coronakontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books. Er lebt in Bayern und Italien.
Wie das tropft und träufelt, spritzt und splascht
Ich bin da anders. Kommen Sie, wir nehmen eine Ausfahrt. Wir fahren über die Dörfer des Wissens und der Empfindungen. Alleen der Pointen, Tunnel der Ungewissheit, Brücken der Visionen. Wir sehen uns um. Und unterwegs …Wie wäre es mit einem erfrischenden Bad im Wörter-See?
Wie das glitzert und glimmert, wogt und wellt, tropft und träufelt, spritzt und splascht. Toll, was? Zugegeben: Wir Texte sind ein bisschen eitel. Jeder Text hält sich selbst für super, das liegt in seiner Natur. Oder haben Sie schon mal einen Text gelesen, der sich selber scheiße findet? Das wäre rein handwerklich so anspruchsvoll, dass es schon wieder toll wäre.
Also jetzt weiter im Text. Texte kennen keinen Lockdown. Wir müssen uns bewegen, bis zum Ende. Ein Wort folgt auf das andere, ein Satz folgt auf den anderen, ein Abschnitt auf den anderen. Ein Text kann niemals stehen bleiben. Stehen bleiben. Stehen bleiben. Es funktioniert einfach nicht.
Natürlich hätten wir auch gern ein Zuhause. Welcher Text träumt nicht von einem schön gebundenen Buch mit Schutzumschlag, Hochglanz und abwaschbar, mit einem festen Platz in einem Bücherregal? Bisschen retro, ich weiß. Aber Bücherschränke sind auch der ideale Hintergrund für Skype-Gespräche und Zoom-Konferenzen. Davon können kurze Textchen wie ich nur träumen. Aber ich will nicht meckern. Dafür kommen wir ganz schön rum. Wer uns so alles liest. Oder wenigstens damit anfängt. Wir Texte werden ja gern mal von unseren Leser*innen verlassen. Aber es gibt auch ein paar richtig Gemeine unter uns. Texte, die ihre Leser*innen verlassen. Einfach so stehen lassen. Um die Ecke verschwinden, ganz woanders hin.
… die CDU nach Merkel wird sich offenkundig nur in eine Richtung bewegen. Nach rechts. Der eine Teil will zum beinhart stalinistischen Neoliberalismus der neunzehnhundertneunziger Jahre zurück. Der andere steht schon mit einem Bein in einer populistischen Halbnazi-Koalition. Gemeinsam sind sie unausweichlich. Da wäre ja ein hemmungsloser Opportunist wie Markus Söder …
Angst vor der Zombifizierung
Da sehen Sie es. Jetzt hat uns ein anderer Text gekreuzt. Es gibt so viele davon, da bleibt das nicht aus, dass man sich gegenseitig über den Weg läuft. Gerade hier draußen. Für Texte gilt übrigens das selbe wie sonst im Verkehr: rechts vor links. Okay, wir Kleintexte sind manchmal zugegeben schon ein bisschen albern. Es hat vielleicht mit der Angst vor der Zombifizierung zu tun: Texte leben ja nur, wenn sie gelesen werden. Aber sterben können sie auch nicht einfach. Und so irren einige von uns auf ewig durch Netze und Fußnoten. Untot.
Wie dem auch sei. Jetzt verlassen wir aber wirklich alle ausgetretenen Pfade. Wir sind im Urwald. Hier kann alles passieren. Hören Sie die Kakadus schreien? Und diese schwere, süße Luft... Sie werden sich jetzt vielleicht fragen: Gibt es hier Tiger? Natürlich gibt es hier Tiger. Was wäre ich denn für ein Text, wenn es bei mir keine Tiger gäbe. Denken Sie an diese verdammt starken Pranken, an die messerscharfen Krallen, an das Blut und den brennenden Schmerz.
Nein, Entschuldigung, denken Sie jetzt auf keinen Fall an Tigerkrallen auf nackter Haut. Hau ab, Tiger! Ich kann das. Ein Text kann einen Tiger verschwinden lassen, wenn er ihn einfach nicht mehr erwähnt. Kein Tiger, nirgends.
… dankbar greift der postdemokratische Diskurs die Kaperung des Wortes „quer“ durch Rechte, Verschwörungsfantasten und durchgedrehte Esoteriker auf. Querdenken ist nun generell verdächtig. Man muss nur die Anführungszeichen weglassen, und schon hat man einen neuen Verdachtsfall. Die Guten sind die Systemrelevanten und die Bösen sind die Querdenker. Eigentlich ist alles quer, was nichts in unserer „Solidargemeinschaft“ zu suchen hat. Weil …
Nicht einmal im Urwald hat ein Text seine Ruhe, der ausnahmsweise nicht vom ganz normalen Wahnsinn handeln will. Es wird einfach zu viel getextet. Ständig kommt einem etwas in die Que … Wo ist die Redaktion, wenn man sie mal braucht? Auch Texte können sich mal verirren. Passen Sie auf, wo Sie hintreten! Der Boden hier ist trügerisch. Hier weiß man nicht, wovor man mehr Angst haben soll. Vor Tigern oder vor Texten.
Nur Mut! Wir haben es bald geschafft. Ein paar Worte noch, und dann sind Sie wieder in Ihrer ganz normalen taz. Hell, rational, klug. Aber war doch mal was anderes, oder? Nicht immer nur Sinn, Verstand und schlechte Laune. Wir Textchen leisten uns eben auch mal einen kleinen Ausflug. Man gönnt uns ja sonst nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren