Leiter von Hilfsorganisation über Gaza: „Gesundheitssystem vor dem Kollaps“
Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, sagt Tsafrir Cohen von Medico International. Was erwartet er von der internationalen Gemeinschaft?
taz: Herr Cohen, am Dienstag gab es eine Explosion an einem Krankenhaus in Gaza, dabei sollen hunderte Menschen gestorben sein. Welche Folgen wird das haben?
Tsafrir Cohen: Das steigert die Zahl der Toten in Gaza noch weiter, seit Kriegsbeginn sind dort schon über 3.000 Menschen gestorben. Und es verschärft die humanitäre Lage, denn das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Auch wenn noch unklar ist, wer dafür verantwortlich ist, sollten die Waffen jetzt sofort schweigen. Die Leute im Globalen Süden schauen sehr genau darauf, wie sich der Westen in diesem Konflikt verhält. Für sie ist das der Lackmustest, ob sich der Westen an seine eigenen Werte hält – oder ob er Menschenrechte nur dann ins Feld führt, wenn er seine Vormachtstellung und seine imperiale Lebensweise rechtfertigen will. Wenn wir da durchfallen, wird die Entfremdung zwischen dem Globalen Süden und dem Westen weiter zunehmen, die sich übrigens auch auf deutschen Straßen niederschlägt. Wir müssen eine Sprache und eine Praxis entwickeln, anhand derer wir das Menschenrecht von überall, zu jeder Zeit auf gleiche Weise durchbuchstabieren können, hier wie dort. Das ist das Gebot der Stunde.
geboren 1966 in Tel Aviv, ist Geschäftsführer von Medico International. Die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Frankfurt am Main arbeitet seit Jahrzehnten mit Partnerorganisationen in Israel und Palästina zusammen und gehört dem Verein „Bündnis Entwicklung Hilft“ an
Wie geht es Ihren Partnern in Israel und im Gazastreifen? Wie erleben sie die Situation?
Wir haben eine Reihe von Partnern, mit denen wir teilweise seit 30 Jahren zusammenarbeiten. Die israelische Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ zum Beispiel hat sofort Menschen geholfen, die nach den Angriffen der Hamas aus der Region evakuiert worden sind. Viele von ihnen sind in Hotels am Toten Meer untergebracht worden. Gastarbeiter aus Thailand, die in der Landwirtschaft arbeiten, wurden dagegen in größeren Hangars untergebracht. An beiden Orten gibt es keine ausreichende Gesundheitsversorgung. Ein anderer Medico-Partner ist die „Palestinian Medical Relief Society“, die seit vielen Jahren im Gazastreifen arbeitet. Im Moment betreiben sie Pop-up-Kliniken, um im Kriegsgeschehen ein Mindestmaß an Basisgesundheit aufrechtzuerhalten. Die meisten Menschen sind auf der Flucht, und es gibt kaum noch Wasser und Strom. Vor allem der Stopp der Wasserzufuhr führt zu der Gefahr, dass Menschen kontaminiertes Wasser trinken. Schlimm ist, dass seit dem 7. Oktober der solidarische Zusammenhalt zwischen progressiven Israelis und Palästinensern über alle Grenzen hinweg zerrieben wird. Die gemeinsame Vision und auch Praxis zu erneuern, wird eine Mammutaufgabe.
Die EU hat nun angekündigt, die humanitären Hilfsgelder für den Gazastreifen zu verdreifachen. Vor einer Woche wollte sie noch alle Hilfsgelder stoppen. Auch Deutschland wollte seine Hilfsgelder auf den Prüfstand stellen. Was würde ein Stopp bedeuten?
Das Gros unserer Projekte wird weltweit durch Spenden finanziert. Im Gazastreifen arbeiten wir aber auch mit staatlichen Geldern. Dort unterstützen wir Projekte zur Gesundheitsversorgung und progressive Organisationen, die etwa helfen, Frauen in einer patriarchalen und bitterarmen Gesellschaft zu ermächtigen. Oder die Menschenrechtsorganisation Al Mezan, die gleichermaßen Menschenrechtsverletzungen seitens der israelischen Armee, der Hamas sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde bekämpft. Ihnen würde man das Geld streichen, nicht der Hamas.
Welchen Spielraum gibt es dafür?
Seit die Hamas 2007 im Gazastreifen die Macht übernommen hat, sind die Spielräume dort immer kleiner geworden. Aber unsere Partner nutzen die Spielräume, die sie haben. Das kennen wir auch aus anderen Ländern wie Iran, Syrien oder Afghanistan. Wenn wir nur dort arbeiten könnten, wo eine wunderbare Demokratie herrscht, dann müssten wir unsere Arbeit ganz einstellen.
Wie können Sie verhindern, dass Geld an die Hamas fließt?
Zunächst zum Kontext: Im Gazastreifen leben etwa 2,3 Millionen Menschen auf 350 Quadratkilometern, das ist in etwa die Größe von Köln. Wir reden von einer Enklave, die abgeriegelt ist und dadurch abhängig von Hilfsgeldern aus dem Ausland ist. Die Bundesregierung hat sich, zusammen mit den USA und der EU, seit den Friedensverträgen von Oslo dazu verpflichtet, Gaza zu unterstützen, bis eine endgültige Lösung zwischen Israel und den Palästinensern erzielt wurde. Das ist umstritten, weil es Israel von seiner Verantwortung für die unter Besatzung lebenden Palästinenser entbindet, die es aufgrund des Völkerrechts eigentlich trägt. Die Gesundheitsversorgung etwa interessiert weder Israel noch die Hamas – da springen Hilfsorganisationen ein, darunter unsere Partner. Diese haben unser vollstes Vertrauen.
Nun steht eine Bodenoffensive bevor. Was erwarten Sie?
Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Kämpfe innerhalb von Städten erlebt: Denken Sie an Grosny, an Aleppo, an Mariupol. Der aktuelle Schrecken wäre dann nur die Vorstufe zu einem noch größeren Grauen.
Es heißt, die Hamas versteckt sich hinter Zivilisten und in Wohngebäuden. Was ist Ihre Erfahrung?
Die Situation der Zivilbevölkerung Gazas ist seit Jahrzehnten unhaltbar. Man hat den Eindruck, dass ihr Leben niemandem etwas bedeutet, sie von allen beteiligten Akteuren zum Spielball gemacht und ihre Menschenwürde systematisch missachtet wird. Sie leidet nicht nur im Krieg unter der Hamas und deren kaltblütiger militärischer Strategie. Auch Israel hat als Besatzungsmacht, die es immer noch ist, die Verantwortung, Zivilisten zu schützen.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock waren beide in Israel und haben dem Land ihre volle Unterstützung zugesagt. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Deutschland ist der zweitwichtigste Alliierte Israels. Deshalb muss die Bundesregierung sehr verantwortungsvoll handeln. Es war richtig, direkt nach den Angriffen zu signalisieren, dass man fest an der Seite der Opfer und der betroffenen Menschen in Israel steht.
Aber?
Doch es ist brandgefährlich, wenn aus der besonderen Verantwortung Deutschlands eine bedingungslose Unterstützung des israelischen Vorgehens abgeleitet wird. In der israelischen Regierung sitzen Rechtsradikale, die einer ethnischen Säuberung das Wort reden. Zudem hat die Regierung in den letzten Monaten enorm an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verloren und versucht, sie durch massive Vergeltung wiederherzustellen. Dies gefährdet auch das Leben der Geiseln. In dieser Situation ist es sehr wichtig, dass gerade die Verbündeten Israels auf der Einhaltung des Völkerrechts bestehen und den Schutz von Geiseln wie Zivilbevölkerung als Bedingung für die weitere Unterstützung nennen.
Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant hat eine totale Blockade von Wasser, Strom und Lebensmittelzufuhr in den Gazastreifen verhängt. Wie bewerten Sie das?
Es ist zumindest ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Bundesregierung muss klarmachen, dass jede Seite für ihre Taten verantwortlich ist und für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Verbrechen der einen Seite können nicht Verbrechen der anderen rechtfertigen. Die Hamas hat auf brutale Art und Weise Grenzen überschritten. Das rechtfertigt aber keine Grenzüberschreitungen der anderen Seite.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Am Dringlichsten wäre, darauf hinzuarbeiten, die aktuelle Eskalation zu beenden. Es gilt, die weitere Brutalisierung und Entmenschlichung zu stoppen. Es braucht internationalen Druck auf alle Akteure, von allen Seiten. Die Hamas muss alle Geiseln unverzüglich freilassen, alle Angriffe auf Zivilisten und auf Gesundheitseinrichtungen müssen aufhören, humanitäre Hilfe muss ermöglicht und politische Vorschläge jenseits der militärischen Eskalation entwickelt werden. Medico hat seit Jahrzehnten, vor allem seit der völkerrechtswidrigen Abriegelung des Gazastreifens 2007, vor einer solchen Eskalation gewarnt und mit unseren israelischen und palästinensischen Partnern eine politische Lösung des Konflikts gefordert. Das gilt auch nach der Zäsur des 7. Oktobers. Es muss der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden. Denn ohne ein Recht auf Rechte für alle Menschen in Israel und Palästina, in welchen staatlichen Formen auch immer, wird es kein Ende der Gewalt und damit auch keine Sicherheit für Israelis wie Palästinenser geben.
Hinweis: In einer früheren Version des Interviews stand, eine Rakete sei in ein Krankenhaus eingeschlagen. Als gesichert gilt, dass es am Dienstagabend zu einer Explosion auf einem Parkplatz nahe dem Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt kam. Die entsprechende Stelle wurde geändert.
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