Leben mit einer Angststörung: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle
Grundlos Panik, ob in der U-Bahn oder auf der Couch. Jeder sechste Erwachsene in Deutschland leidet unter Angststörungen. Auch unsere Autorin.
Haltestelle Alexanderplatz. Türen auf, noch mehr Menschen rein. Zurückbleiben, bitte, das heißt: zwei weitere Minuten nicht fliehen können. Vor den Bildern in meinem Kopf, die meinen Körper dazu bringen, so zu tun, als wäre ich in Gefahr. Klosterstraße. Ich wische meine nassen Hände an der Hose ab, kühle mit ihnen meinen Nacken. Meine Ohren sausen, ich schwebe. Die Leute gucken schon. Oder?
Noch eine Station, dann bin ich auf der anderen Seite der Spree. Von da aus könnte ich laufen. Ich kneife mir in den Arm und spüre, ich bin noch da. Märkisches Museum. Die U-Bahn wird langsamer, die U-Bahn hält, ich stolpere hinaus und laufe blindlings Richtung Ausgang, laufe, laufe, laufe, bis sich die Welt aus vielen Pixeln wieder zu einem Bild zusammensetzt. Dass ich zu spät zur Arbeit komme – egal. Den schwersten Teil des Tages habe ich hinter mir.
Etwa jeder sechste Erwachsene in Deutschland leidet unter Angststörungen. Ich bin eine von ihnen. Der internationale Krankheitskatalog ICD führt unsere Diagnosen unter F40-F48: neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. Die Befunde heißen: Agoraphobie; soziale Phobien; spezifische (isolierte) Phobien; sonstige phobische Störungen; Panikstörung und so weiter. Ich habe eine generalisierte Angststörung. Die Angst ist nicht an einen Auslöser gebunden, sie kriegt mich immer und überall.
Weicheier. Haben die keine echten Sorgen?
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen, noch vor Depressionen und Alkoholismus. Dennoch sprechen Betroffene ungern darüber. Vielleicht, weil sich zu fürchten in unserer sicheren und auf Leistung gepolten Gesellschaft als irrational und unproduktiv gilt. Was sind das bloß für Menschen, die grundlos Panik kriegen, in der U-Bahn, im Gespräch mit Freunden, zu Hause auf der Couch? Weicheier. Wohlstandskinder mit Wohlstandsängsten. Haben die keine echten Sorgen?
Sätze, die ich vor dem Schreiben gehört habe: „Wenn das dein zukünftiger Arbeitgeber liest, bekommst du keinen Job mehr.“ „Es muss ja nicht die ganze Welt über deine Probleme Bescheid wissen.“ „So was bespricht man nur mit den engsten Freunden.“
Da braucht man sich nicht zu wundern, dass Angststörungen stigmatisiert werden.
Nicholas Müller kümmert das nicht mehr. Bis vor zwei Jahren war er der Sänger der Band Jupiter Jones, die mit dem Lied „Still“ ihren Durchbruch hatte. Danach ausverkaufte Konzerte, Goldene Schallplatte, Platinplatte, Echo. Plötzlich stieg Müller aus. „Ich laufe nun schon seit einigen Jahren mit einer vermaledeiten Angststörung durch die Weltgeschichte“, schrieb er in einem offenen Brief an seine Fans, und: „Es war nie wirklich klar, wie und wie lange ich belastbar sein konnte, was wiederum zur großen Belastung für alle Beteiligten wurde. Ich kümmere mich nun um meine Genesung.“
Inzwischen hat er eine neue Band, ist Botschafter der Deutschen Angst-Selbsthilfe und sagt, er sei gesund. Wie kommt man dahin? Ich will ihn kennen lernen. Er sagt ja.
Treffen in der „Lala-Ranch“
Wir treffen uns in der Magdalenen-Klinik bei Osnabrück, früher ein Schwesternwohnheim, heute eine Klinik für psychische und psychosomatische Erkrankungen. „Lala-Ranch“, sagt Müller, „aber das ist wohl so ein Humor, den man sich nur erlauben darf, wenn man selber betroffen ist.“ Er trägt ein grün-blau-kariertes Flanellhemd, in seiner Brusttasche steckt ein Kamm. Seine Haare sind nach hinten gegelt.
Nicholas Müller redet gern, aber deswegen treffen wir uns ja. Zehn Wochen verbrachte er hier, damals sang er noch bei Jupiter Jones. Die Klinik, sechs Stockwerke, Balkone aus Waschbeton, vorne ein Parkplatz, rechts Wald, links ein Baukran, ist kein schöner Ort. Nicholas Müller sagt: „Der Grundstein für alles, was meine Gesundung angeht, ist hier gelegt worden.“
Sein Behandlungsplan: drei Einzelgespräche pro Woche, zwischendurch Kunsttherapie, Körper- und Emotionstraining, Stressbewältigungsgruppe, lösungsorientierte Gruppe. Unfassbar anstrengend sei diese Zeit gewesen, sagt er. „Zwischendrin hab ich gedacht: Mir geht’s doch jetzt schlechter, als es mir vorher ging. Aber wenn man sich in der Psychotherapie wohlfühlt, dann läuft was schief.“
Die Klinik liegt auf dem Harderberg. Patienten nennen ihn Zauberberg, weil sie hier geschützt sind. Vor dem Leben, in dem die meisten Menschen nicht verstehen, was mit ihnen los ist. Aber „Feenstaub gibt es hier nicht“, sagt Nicholas Müller. Keine Medizin, die alles heilt. Und irgendwann muss man wieder runter.
Dass ich über meine Angst schreibe, findet Nicholas Müller super. „Eigentlich dürfte das nicht außergewöhnlicher sein als ein Schnupfen“, sagt er. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Menschen kennen, der eine Angsterkrankung hat, liegt bei 100 Prozent. Oder man kennt einfach unfassbar wenige Menschen.“
Ich schäme mich nicht
Ich schreibe diesen Text ohne Pseudonym, weil ich mich nicht für etwas schäme, das ich mir nicht ausgesucht habe. Noch vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen – oder gelogen.
Als ich beginne, als Redakteurin zu arbeiten, bin ich regelmäßig Chefin vom Dienst, muss in der Konferenz anwesend sein, um die Themen vorzutragen. Andere haben Lampenfieber, ich fürchte, in Ohnmacht zu fallen, vom Stuhl zu rutschen, und dann wieder aufzuwachen, besorgte Gesichter über mir, danach Getuschel im Treppenhaus: Was war denn mit der los? Während die anderen dafür kämpfen, dass ihr Thema auf die prominente Seite 3 kommt, sitze ich auf meinen nassen Händen, um mich am Weglaufen zu hindern.
Nach einem Jahr schaffe ich das nicht mehr. Die Panik trifft mich mit Maschinengewehrkugeln: rattattat, heiß, rattattat, kalt, rattattat, Schwindel, bloß weg hier, raus, schnell. Ich täusche einen Hustenanfall vor und laufe aus dem Raum, verpasse meinen Einsatz, schäme mich. Ich brauche Hilfe. Oder ich muss kündigen.
Was bei einer Panikattacke im Körper passiert: Die Großhirnrinde leitet Reize an das für Gefühle zuständige limbische System weiter. Teile des limbischen Systems, der Hippocampus und die Amygdala, aktivieren den Hypothalamus, der über Nervenbahnen im Nebennierenmark dafür sorgt, dass Stresshormone ausgeschüttet werden: Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol und Kortison. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung beschleunigt, die Blutgefäße verengen sich, die Verdauung schaltet herunter. Kalter Schweiß.
Auf die Alarmreaktion folgt die Anpassungsreaktion, in der der Parasympathikus die Stresshormone abbaut, um den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Verdauung schaltet hoch, das kann Übelkeit, Brechreiz, Durchfall verursachen. In der dritten Phase erholt sich der Körper. Wenn die Stresssituation dauerhaft anhält, kann die Erschöpfung chronisch werden. Das führt zu tiefer Müdigkeit, teilweise sogar zu einer Depression.
Ergebnis: schwere Angststörung
Im November 2009 beginne ich eine Verhaltenstherapie. Situationen durchspielen und den Umgang mit der Angst üben soll besonders schnell wirken und die höchste Erfolgsquote haben, sagen Studien. Die ersten paar Stunden sind zur Probe. Der Therapeut sieht aus wie Hannibal Lector und empfiehlt mir das Buch „Endlich frei von Angst“, mit dem ich zwischen unseren Terminen üben soll. Darin gibt es einen Angsttest, in dem ich Fragen beantworten soll. Fühlen Sie sich wegen Ihrer Angst minderwertig? Fürchten Sie, dass Sie verrückt werden? Ich vergebe mal einen Punkt, mal fünf. Ergebnis: schwere Angststörung.
In einer Sitzung soll ich minutiös meinen Tagesablauf schildern, vom Aufstehen bis zur Angst. Dann liest der Therapeut vor, was er notiert hat: in die Küche gehen. Kaffee machen. Anziehen. Zur Arbeit fahren. Systematische Desensibilisierung heißt diese Technik, bei der ich mir die Situationen so lebhaft vorstellen soll, dass die gleichen Gefühle ausgelöst werden wie in der Realität. Ich fühle: nichts. In der dritten Stunde schlägt der Therapeut vor, dass ich in der Redaktionskonferenz sage, wie es mir geht. Ich breche ab.
Nicht nur, weil er etwas Unvorstellbares verlangt. Sondern auch, weil es mir nicht reicht, in einem Zimmer Angst zu simulieren. Ich will verstehen, woher sie kommt.
Ich suche mir einen neuen Therapeuten, Fachgebiet: tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Keine Übungen mehr, sondern sprechen – über alles, was mich beschäftigt. Ich rede immer noch viel über Angst. Zum Beispiel darüber, in den Urlaubsflieger zu steigen und die Kontrolle über mein Leben an den Piloten abzugeben, aber die Gespräche führen uns oft fort von meiner Panik, meinen schwitzigen Händen. Ich zeichne einen Baum. Wir reden über meine Kindheit. Ich zeichne ein Diagramm mit meinen Freunden – wer ist mir nahe, wer weit weg? Wir reden über meine Zukunftssorgen. Ich frage mich: Warum ist es so wichtig, was andere von mir denken? Welches Bild habe ich von mir? Warum ist es so wichtig, die Kontrolle zu behalten?
Ich fühle mich nicht mehr reduziert auf meine Angst. Und ich lerne, dass es viele Ursachen für eine Angststörung gibt. Vererbung. Erziehung. Ein traumatisches Ereignis. Stress. Drogen. Krankheiten. Gesellschaftliche Umstände. Allerdings müssen mehrere Faktoren zusammenkommen.
Ohnmacht oder Panikattacke?
Dann gab es da diesen Arztbesuch, mit zwölf, zur Blutabnahme. Keine Vene zu sehen, na, dann nehmen wir’s aus dem Rücken, stell dich mal hin, geht ganz schnell. Ich war schneller und kippte um. Ein Rauschen in den Ohren, Flimmern vor den Augen, irre Träume. Danach: Orientierungslosigkeit, wo bin ich? Hier, ein Schluck Wasser, Beine hoch. Keine Sorge, waren nur ein paar Sekunden.
Am meisten Angst machte mir, dass ich dem Arzt vollkommen ausgeliefert war. Sehr viel später wird mein Therapeut die Vermutung aufstellen, dass es gar keine Ohnmacht war, sondern meine erste Panikattacke. Aber damals weiß ich das noch nicht. Und habe seit dem Arztbesuch ständig Angst, umzukippen. Bei Referaten. Beim Schulkonzert auf der Bühne. Im Flugzeug. Im Kino. Im Theater. In Konferenzen. In der U-Bahn. In Situationen, aus denen ich nicht jederzeit fliehen kann. Jedenfalls nicht, ohne mich lächerlich zu machen.
„Die Angst frisst die Ressourcen auf, die sie finden kann“, sagt Nicholas Müller. „Das ist wie bei Pacman.“ Wir stehen in seinem ehemaligen Zimmer. Lachsrosa Sofa und Sessel, beige gemusterte Vorhänge, Fernseher, DVD-Player, Kühlschrank, Kreuz über dem Bett. Manche Patienten nehmen es ab, Müller nicht. Obwohl er mit der Angst vor Gott in der Klinik ankam: „Ich habe gedacht, dass er mich bestrafen will.“
Vor was Nicholas Müller sonst noch Angst hat: Frösche, Brücken, Sterben. Panik hatte er anfangs nur zu Hause, auf der Couch. Die Bühne hingegen war seine Komfortzone. Merkwürdig, dachte er sich, aber ist eben so. „Und das hat die Angst gemerkt.“ Also kam sie eines Tages mit zu seinem Konzert, war irgendwann bei jedem Auftritt dabei. Sein ganz besonderes Groupie.
Ein kleiner Auslöser reicht
Die Therapie schlägt an, es geht mir besser. Die Angstattacken sind weniger intensiv, kommen seltener, manchmal wochenlang nicht. Aber dann reicht ein kleiner Auslöser, und ich möchte nie wieder vor die Tür. Wenn eine Freundin von den Schmerzen beim Einsetzen ihrer Spirale erzählt, stelle ich mir vor, wie ich auf dem Stuhl liege. Wenn es in der Schlange vor einem Club eng wird, male ich mir aus, wie die Menschenmassen mich niedertrampeln. Wenn mir jemand sein neugeborenes Baby in den Arm legt, bekomme ich Schweißausbrüche, weil ich es fallen lassen könnte.
Wir verlängern die Therapie, von 25 auf 50 Stunden, im Oktober 2011 sind auch die vorbei. „In zwei Jahren können Sie wiederkommen“, sagt der Therapeut. Die Pause ist von der Krankenkasse vorgeschrieben, erst danach übernimmt sie die Kosten wieder. Er reicht mir die Hand, zum letzten Mal für eine lange Zeit.
Eineinhalb Jahre später wird mein erstes Buch veröffentlicht, ich soll vor Publikum daraus vorlesen und ins Fernsehen. Ich kann nächtelang nicht schlafen. Was, wenn ich in der Talkshow ohnmächtig werde? Ich will nicht die sein, über die auf YouTube alle lachen.
Nicholas Müller sieht das pragmatisch. Neulich war er bei „Volle Kanne“ im ZDF, um über seine Angstgeschichte zu sprechen und bekam kurz vor der Sendung Panik. Durchgezogen hat er es trotzdem. „Ich hab da keinen großen Bock drauf“, sagt er, „aber vielleicht wär es wirklich mal ganz sinnvoll, live, während einer Sendung, eine Panikattacke zu haben. Damit die Zuschauer sehen: So sieht das aus.“
Seine erste Panikattacke hatte Müller nach dem Tod seiner Mutter. Er ging in eine Tagesklinik, zur ambulanten Therapie, nahm Antidepressiva, zog mit 27 wieder zu seinem Vater, kiffte sich bis zur Psychose und wartete irgendwann nur noch auf die nächste Panikattacke, bis zu fünf waren es täglich. „Aber eigentlich war der ganze Tag eine einzige Angst.“ Cardiophobie, Angst vor Herztod. Dabei weiß Müller, dass sein Herz gesund ist. So gesund wie es im Körper von jemandem sein kann, der mal über 150 Kilo wog und seit 20 Jahren raucht. Allerdings leichtere Zigaretten als ich.
„Dann bin ich tot“
Dann gab es diese Panikattacke während einer Sitzung. Seine Therapeutin fragte: „Herr Müller, was ist das Schlimmste, was Ihnen jetzt passieren kann?“
„Na, dass ich jetzt hier halt umkippe.“
„Und was ist, wenn Sie jetzt hier umkippen?“
„Dann werd ich wahrscheinlich sterben.“
„Und was ist, wenn Sie sterben?“
„Dann bin ich tot.“
„Ja, das stimmt. Na, dann können wir jetzt ja weitermachen.“
Ich nehme Stunden bei einer Schauspiellehrerin, die Augen wie ein Raubvogel hat und so streng ist, dass ich Schweißausbrüche bekomme. Sie sagt: „Du kannst gar nicht in Ohnmacht fallen, wenn du aufgeregt bist. Dafür ist viel zu viel Adrenalin in deinem Körper.“ Ich bin erleichtert. Eine Lesung, eine Talkshow, ich lebe noch, ich bin wahnsinnig stolz.
Ich lerne, in mich hineinzuhören. Einmal sitze ich in der U-Bahn und bekomme Herzrasen und feuchte Hände. Na toll, denke ich, schon wieder eine Panikattacke. Dann fällt mir ein, dass ich am Abend vorher auf einer Party war. Ich habe einen Kater. Und freue mich darüber. Ich trainiere, einzuordnen, was mein Körper tut. Vieles, was sich anfühlt wie Angst, ist keine. Mir ist übel? Regelschmerzen. Mir bricht der Schweiß aus? Hochsommer. Alles ganz normal.
Mit meinen Eltern fahre ich im Frühjahr 2014 nach Südfrankreich auf unseren Campingplatz, der uns zwar nicht gehört, aber irgendwie doch, weil wir jede Pfingstferien dort waren. Es ist der erste gemeinsame Urlaub, seit ich erwachsen bin. Ich liege in der Hängematte, am Strand und fühle mich zum ersten Mal seit langer Zeit für nichts verantwortlich. Ich knirsche nicht mal mit den Zähnen.
Ich bin eine Maschine
Als ich zu Hause den Briefkasten öffne, ist er voller Post. Rücklastschriften, Konto nicht gedeckt. Die Angst ist wieder da. Weil ich mein Leben nicht in den Griff bekomme. Weil ich mit 30 noch von meinen Eltern abhängig bin. Weil ich ein paar Dinge in meinem Leben ändern müsste und genau das gerade nicht kann. Wochenlang bin ich wie gelähmt. Ich gehe weiter zur Arbeit, ich funktioniere, ich bin eine Maschine. Dann verschwindet die Angst. Dafür spüre ich gar nichts mehr.
Dass ich gerade frisch verliebt bin? Egal. Dass die Sonne scheint? Egal. Dass ich mich irgendwann wieder besser fühle? Ausgeschlossen. Ich bin im falschen Film, im falschen Leben. Ich bin nicht echt.
Mein Therapeut wird das später eine „depressive Episode“ nennen; es ist die erste von dreien, immer im Abstand von ein paar Wochen. Er erklärt mir, dass mein Körper mich schützt, wenn die Ängste zu groß werden. Wie bei einem Stromausfall: Überhitzung, zack, dunkel.
Menschen, die das mitkriegen, verwechseln es oft mit Traurigkeit, weil sie das kennen und verstehen. Lass dich nicht hängen, komm aus deinem Loch raus, sagen sie dann. Doch eine Depression lässt sich nicht steuern. Nicholas Müller kennt das auch. „Das ist wirklich zynisch, zu sagen: ‚Bleib doch mal positiv‘ “, sagt er, „wenn ich umfasst bin von einer großen, allmächtigen Schwärze.“
In meinem Kopf ist viel zu viel los
Im November buche ich eine Woche Urlaub in einem Kloster bei Hannover. Ohne Handy, ohne Laptop, nur mit einem Koffer voller Bücher. Schon im Zug fange ich an zu heulen, die Anspannung fällt von mir ab. Es gibt einen großen Garten, Einzelzimmer, eine Gemeinschaftsküche für die Gäste und jeden Morgen um acht eine halbstündige Gruppenmeditation.
Vor dem Meditieren habe ich, natürlich Angst. Was, wenn ich den Raum verlassen muss und die anderen störe? Wenn ich es nicht schaffe, die Gedanken vorbeiziehen zu lassen, sondern ihnen ausgeliefert bin? In meinem Kopf ist viel zu viel los. Beim Mittagsschlaf träume ich, wie ich mich blamiere. Während eines klassischen Konzerts will ich früher gehen und bekomme den Deckel einer riesigen Thermoskanne nicht zu. Aus meinem Rucksack dröhnt laute Musik.
Als ich am nächsten Morgen in eine Decke gehüllt auf einem kleinen Holzhocker sitze, knackt es im Nacken, an den Füßen, am Steißbein. Ich habe einen Körper. Das hatte ich in letzter Zeit irgendwie vergessen.
Nach ein paar Tagen wird der Tinnitus schwächer. Ich freue mich jeden Morgen auf die Meditation, und ich schaffe es tatsächlich, nicht zu denken. Ich lösche meine Festplatte und habe endlich wieder Platz. Manchmal höre ich mein Handy phantomklingeln.
Ich bin schwach. Egoistische Scheißkuh
7. Januar 2015. Ich habe frei, mein Freund ist zu Besuch. Als ich aus der Dusche komme, läuft der Fernseher. Zwei Männer haben die Redaktion der französischen Zeitung Charlie Hebdo gestürmt und elf Personen getötet. Im Internet finden wir ein Video, das später nicht mehr vollständig zu sehen sein wird: Die Täter schießen bei ihrer Flucht auf einen Polizisten, der verwundet am Boden liegt. Direkt auf seinen Kopf. Ich sitze heulend auf dem Bett. Normalerweise kann ich nicht mal bei Gewalt in Filmen hingucken, aber das hier ist echt. Wir gehen raus, die Sonne scheint, Menschen lachen. Ich möchte mich an der Luft festhalten, um nicht umzufallen.
Am nächsten Tag muss ich zur Arbeit. Ich will nicht, ich fahre trotzdem. Die Kollegen kommen schließlich auch. In der Tram kann ich kaum atmen, wenn ich ein lautes Geräusch höre, galoppiert mein Herz. Im Büro sitze ich mit dem Rücken zur Tür und drehe mich jedes Mal um, wenn ich Schritte höre. Ich ziehe den Kopf ein. Nach ein paar Stunden fühlt es sich an, als wären meine Ohrläppchen mit den Schultern verwachsen. Dass ein Polizeiauto vor der taz steht, finden die Kollegen sinnlos. Ich fühle mich sicherer – und schlecht. Sie sind stark, ich bin nur froh, wenn mir nichts passiert. Egoistische Scheißkuh, denke ich.
Ich treffe mich mit einer Freundin, die Psychotherapeutin in Ausbildung ist. Sie findet mich ziemlich reflektiert. „Es gibt nicht viele Menschen, die ihre Angst akzeptieren können“, sagt sie. „Aber warum ist sie dann immer noch da?“, frage ich. „Weil du die Angst nur aushältst. Akzeptieren bedeutet aber, sie anzunehmen. Mehr noch: Du musst lernen, sie zu lieben.“
Die Angst lieben, das ist doch verrückt.
„Genau das ist dein Problem“, sagt die Freundin. „Die Angst gehört zu dir. Dass man sich selbst lieben soll, davon hast du doch schon mal gehört, oder?“
Klar. Hat jeder. Aber ich will nicht, dass die Angst ein Teil von mir ist. Ich will sie loswerden. Kann ich die Angst tatsächlich lieben lernen? Und wie?
Ich empfinde Dankbarkeit
Wieder beginne ich eine Therapie, über drei Jahre nach meiner letzten. Der Therapeut ist derselbe wie damals, aber die Sitzungen sind anders. Wir fangen nicht bei meiner Angst an, sondern bei meinem Leben. Wir reden über meinen Beruf, meine Freundschaften, meine Beziehung. Die Angst ist nicht mehr Hauptthema, wir kommen nur immer wieder auf sie zurück.
Und ich erkenne, dass sie einen Zweck hat: Sie weist mich darauf hin, wenn etwas schiefläuft, mir etwas zu viel wird. Andere bekommen dann Magenprobleme oder Kopfschmerzen, ich eben Angst. Aber immerhin sagt mir jemand Bescheid, wenn es ein Problem gibt, was ich nicht selbst bemerke. Ich empfinde Dankbarkeit. Näher dran an Liebe war ich noch nie.
Nur warum bin ich nicht früher darauf gekommen? So genial ist die Erkenntnis nicht. „Wenn Sie am falschen Bahnsteig stehen, können Sie lange auf den Zug warten“, sagt der Therapeut. „Manchmal müssen Sie nur die Perspektive wechseln.“
Ich lese ein Buch von Eckhart Tolle, der selbst jahrelang Angst und Depressionen hatte und spiritueller Lehrer wurde. Er glaubt, wir sollten aufhören, uns mit unserem Verstand zu identifizieren. Der kreist ausschließlich um die Vergangenheit oder die Zukunft. Er schreibt: „Die psychologisch begründete Angst […] hat immer mit etwas zu tun, das passieren könnte, nicht mit etwas, das gerade geschieht. Du bist im Hier und Jetzt, während dein Verstand in der Zukunft ist. Dadurch entsteht eine Lücke, die sich mit Angst und Sorge füllt.“
Der erste Schritt zur Befreiung vom Verstand sei es deshalb, seine Gedanken zu beobachten, ohne sie zu analysieren oder bewerten. Und sich zu fragen: Gibt es gerade ein Problem? Nicht morgen oder in zehn Minuten, sondern jetzt?
Als ich das nächste Mal in der U-Bahn sitze, mache ich genau das. Ich beobachte meine Gedanken. In meinem Kopf tagt ein Stammtisch voller Rentner:
„Puh, heiß hier.“
„Und schlechte Luft! Wenn das so weitergeht, macht bestimmt gleich dein Kreislauf schlapp.“
„Warum hält die Bahn an? Hier ist doch gar keine Haltestelle.“
„Stell dir mal vor was hier los ist, wenn du einfach so mitten auf den Boden kotzt, das wär was.“
Ich kichere, lasse sie reden und gucke aus dem Fenster. Gibt es gerade ein Problem? Nö.
Wieder alles auf Anfang?
Es geht mir weiter gut, auch in den folgenden Monaten. Aber was, wenn die Angst zurückkehrt? Ist dann wieder alles auf Anfang? „Wenn die Angst an schweren Tagen wiederkommt, dann muss sie das halt machen. Aber dann geht sie auch wieder. Früher ist sie nie gegangen. Und ich finde, das ist das Ziel“, sagt Nicholas Müller, der sich gesund nennt, seit Menschen wieder überrascht sind, wenn er Anflüge von Panik zeigt.
Dann lädt mich ein Freund zu seiner Hochzeit in den Libanon ein. Ich lerne auswendig, was auf der Seite des Auswärtigen Amts steht, „Teilreisewarnung“, „erhöhte Entführungsgefahr für Ausländer“, lese Nachrichten und trickse mich selbst aus. Ich chatte mit dem zukünftigen Bräutigam und sage ihm schnell zu. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.
Am 1. Juli fliege ich nach Beirut, mit Zwischenstopp in Istanbul, drei Tage nach dem Anschlag auf den Flughafen. Wir fahren nach Baalbek an die syrische Grenze, betrunken mit dem Auto und mit einem Motorboot aufs offene Meer, wir hören Schüsse, warten vor einem Panzer auf das Taxi. Ich überlege, mich von einem 38 Meter hohen Felsen abzuseilen, und mache es dann doch nicht. Auf dem Rückflug bin ich zum ersten Mal im Flugzeug so entspannt, dass ich schlafen kann.
Angst hatte ich in den zehn Tagen keine einzige Sekunde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene