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LangsamkeitDie Stadt als Bühne

Das Braunschweiger Museum für Photographie zeigt Werke der Niederländerin Paulien Oltheten, die sich spielerisch zwischen Inszenierung und Zufall bewegen.

Paulien Oltheten, Mobile phone (infinity), 2013; Jackets over reling, 2008. Bild: Paulien Oltheten

BRAUNSCHWEIG taz | Paulien Oltheten ist von dieser winzigen Greisin, die sich mit zermürbender Langsamkeit durch die kleine Ortschaft schleppt, fasziniert. Wie es wohl sein muss, sich in einem ganz anderen Tempo durch die Welt zu bewegen? Während Passanten, Fahrradfahrer und Autos achtlos vorbeiziehen, setzt die alte Frau zäh und unbeirrt einen Schritt vor den nächsten, um wie jeden Tag von ihrem Haus zu den Läden des Ortes zu gelangen. Über einen längeren Zeitraum beobachtet die junge Künstlerin die Frau, studiert genau ihren Gang und ihr Tempo ein, um dann schließlich selbst, in gebückter Haltung und den Rücken mit unzähligen Taschen beladen, die tägliche Wegstrecke genauso langsam zurückzulegen.

Ein Video dieser Performance ist zurzeit im Museum für Photographie in Braunschweig zu sehen. Dort sind in Deutschlands erster Einzelausstellung der Niederländerin Werke zu entdecken, welche die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verwischen. Die 1981 geborene Künstlerin, die größtenteils mit den Medien Fotografie und Film arbeitet, zeigt dort in der Hauptsache neue Arbeiten, die im letzten Winter während eines Stipendienaufenthalts in New York entstanden sind.

So auch die Video-Installation „A Moment Of Slowing Down“, in dem Oltheten mit einer Kamera einen Geschäftsmann beobachtet, der ganz langsam, völlig in sich versunken, an einem Zaun entlang schreitet. Dieser intime Moment wird plötzlich von einer Gruppe Touristen gestört, die sich ins Bild schiebt und die Sicht auf den Mann versperrt.

Oltheten gelang es nachträglich, den Geschäftsmann ausfindig zu machen und diesen Moment noch einmal bis zum Schluss nachzustellen – diesmal ohne Störung. Solche Inszenierungen haben für Oltheten genauso viel Authentizität wie ihre Schnappschüsse, solange sie auf ihren Beobachtungen des Alltags basieren.

Als Zuschauer muss man für die Video-Installationen Geduld mitbringen, sich diesem anderen Tempo anpassen. In der schnelllebigen Medienwelt mit ihrer fortdauernden Flut an Informationen und Ereignissen ist man ungeduldig geworden und erträgt die Langsamkeit kaum.

Doch darum geht es Oltheten: um eine andere Geschwindigkeit, um ein Tempo, das es ermöglicht, in der alltäglichen Hektik die poetischen Momente zu entdecken. Zugleich schlummert in diesem Schleichen ein politischer Impetus, denn es ist eine Aneignung des öffentlichen Raumes, durch die die gewöhnlichen Verhaltensmuster gegen den Strich gebürstet und so in ihrer normativen Kraft sichtbar werden.

Neben den Video-Installationen ist ein weiterer Raum im Museum den Fotografien Olthetens gewidmet. In ihnen erkennt man die Arbeitsweise der Künstlerin: In unermüdlichen Streifzügen durch die Welt hat sie Szenen und Momente des Alltags zusammengetragen, die etwas von anthropologischen Beobachtungen haben. Wie ruht der Mensch sich aus, wie sitzt er, wie lehnt er, wie bewegt es sich in der von ihm geschaffenen Umwelt? Solche Fragen scheinen die Fotografin zu bewegen, wenn sie die Analogien, die Ähnlichkeiten menschlichen Verhaltens, sichtbar macht. Dafür ist sie nach Japan, Myanmar und in die USA gereist.

Oltheten interessiert sich für die Zwischenräume, die Transitbereiche der großen Städte, die Menschen während ihrer Routinen durchqueren, für die kleinen, provisorischen Aneignungen des öffentlichen Raumes: Ein Treppengeländer, das als Lehne genutzt wird, eine Parkbank, die zur Liege wird oder ein Stück Pappe, das einem Obdachlosen als Schlafplatz dient.

Oftmals sind es dabei witzige Details, welche die Künstlerin in konzentrierten Bildausschnitten festhält, so wie in den unzähligen Aufnahmen von Menschen, die sich eines Schuhs und einer Socke entledigt haben, um so einem geschwollenen Fuß Luft zu verschaffen. Unbeschwert und spielerisch geht sie mit diesen Motiven um, die sie manchmal noch nachträglich mit kleinen Zeichnungen und Schrift auf ihren Fotografien kommentiert.

Das unablässige Durchstreifen der Großstadt, das Untertauchen in der Menge, um festzuhalten, was um sie herum passiert, hat sie von den Fotografen der Street Photography wie Helen Levitt, Henri Cartier-Bresson oder Vivian Maier abgeschaut. Doch während diese auf den entscheidenden Moment warteten, auf jenen berüchtigten Sekundenbruchteil, in dem der Fotograf auf den Auslöser drücken musste, um das Einzigartige im beiläufig Sichtbaren einzufangen, hat sich Oltheten von dieser Vorstellung gelöst: Wie in ihren Video-Installationen gibt sie auch in ihren Fotografien den Passanten Anweisungen, bestimmte Bewegungen oder Haltungen zu wiederholen.

Die ganze Stadt wird so zu einem großen Bühnenraum und die Menschen werden zu Akteuren, die ein Stück aufführen. Die Frage, was authentisch ist und was nicht, wird bedeutungslos. Alles wandelt sich zu einer großen, mit skurrilen Details gefüllten Wunderwelt, die es zu entdecken gilt.

Manchmal wirken die Bilder aber auch beliebig. Vielleicht müsste Paulien Oltheten in der Komposition ihrer Werke strenger sein, noch stärker nach der Individualität der Porträtierten suchen, sie aus ihren Statistenrollen befreien und ihr gefühltes Erleben in einem bestimmten Moment einfangen. Aber vielleicht ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis sich in ihrem Werk die existenziellen Augenblicke noch stärker verdichten – genug unterwegs ist sie ja, in der Welt da draußen, mit ihrer Kamera.

Paulien Oltheten, „A New Installation“: bis 5. Oktober, Museum für Photographie Braunschweig

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