Lage der Uiguren in China: „Zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit“
In der Region Xinjiang hat China einen Polizeistaat aufgebaut, aus dem es für Uigur:innen kaum einen Ausweg gibt. Tahir Hamut Izgil konnte fliehen.
taz: Herr Izgil, Sie sind seit 2017 im Exil nahe Washington. Gelingt es Ihnen, auf irgendeine Art Kontakt zu dem Umfeld, das Sie verlassen haben, zu halten?
Tahir Hamut Izgil: Ich habe seit der Flucht keinerlei Kontakt mehr zu Freunden und Verwandten aus meiner Heimat. Es wäre zu gefährlich für sie. Hier bin ich nun von der größten Exilgemeinschaft von Uiguren in den USA umgeben. Das hilft mir, sowohl mental als auch in vielen anderen Beziehungen. Wir schaffen es, etwas von unserer Sprache und Religion, unseren kulturellen Traditionen – vor allem Tanz und das Erlernen traditioneller Musikinstrumente – zu pflegen und an die zweite Generation weiterzugeben.
Sie waren drei Jahre im Gefängnis, weil Sie einst zum Studium in die Türkei wollten. Aber in Ihrem Buch „Warten auf meine nächtliche Verhaftung“ schreiben Sie nicht darüber, sondern über die strukturelle Kriminalisierung der Uigur:innen in China. Was ist der Grund für diese Entscheidung?
Die aktuelle Krise ist so bedrängend, dass ich zunächst meine Erfahrungen des Unterdrückungssystems thematisieren wollte. Nachdem ich das nun getan habe, arbeite ich bereits an einem Buch über die Gefängniszeit. Ich habe immer den Plan gehabt, auch darüber zu schreiben. Nicht von China aus selbstverständlich, das wäre nicht möglich gewesen.
geboren 1969 in der Region Xinjiang im westlichen China, ist Filmregisseur, politischer Aktivist und einer der prominentesten modernen Lyriker in uigurischer Sprache. Mitte der 1990er war er für drei Jahre in einem chinesischen Lager inhaftiert, weil er angeblich „sensible Daten“ außer Landes hatte schaffen wollen. Als die Masseninternierungen von Uiguren begannen, floh er 2017 mit seiner Familie ins Exil. Er lebt in Washington. Kürzlich erschien im Hanser Verlag sein Bericht „In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung. Uigurische Notizen“.
Es ist schwierig, sich das Bild eines traditionsorientierten uigurischen Lebens zusammen mit einem hochtechnischen chinesischen Überwachungsapparat vorzustellen, mit repressiven „Smart Cities“.
Ja, das ist ein seltsamer Widerspruch. Das uigurische Gebiet war jahrelang ziemlich abgeschnitten vom Rest der Welt. Daher lebten viele Menschen ein traditionelles Leben. Als dann das Internetzeitalter auch bei uns dämmerte, bedeutete es nicht eine größere Verbundenheit mit der Welt, sondern das Gegenteil: eine neue Stufe der Isolation durch das Hightech-Überwachungssystem des Staates. Nur sehr wenige Menschen konnten sich damals vorstellen, was Überwachungstechnologie heißt. Bald konnten die KI-Programme in ganz China Uiguren identifizieren. Sobald du eine Kamera passierst, die dich als „verdächtiger Uigure“ erfasst, wird ein Alarmton gesendet oder die Daten werden an Sicherheitszentren übermittelt. Jede lokale Polizeistation hat ihr eigenes Internetzentrum.
Wie blicken Sie auf die gewalttätigen Unruhen in der für Uigur:innen zentralen Verwaltungsstadt Urumtschi zurück?
Es wird oft darauf referiert als der Aufstand vom 5. Juli. Es handelt sich jedoch um eine Zeitspanne von Ende Juni 2009, als zwei Fabrikarbeiter in einem anderen Teil Chinas angegriffen wurden, bis Oktober, als auch Intellektuelle unter dem Vorwurf, mit dem Aufstand zu tun zu haben, verhaftet wurden. Es wurde viel über die Hintergründe geschrieben, aber meiner Meinung nach begann der Vorfall mit einem friedlichen Studierendenprotest. Seit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 kam es wiederholt vor, dass friedlicher Widerstand mit Waffengewalt endete. Der sogenannte 5.-Juli-Vorfall endete damit, dass die chinesische Regierung ihren Sieg über die Separatistenbewegung erklärte.
Kurzwellenradios wurden von der Regierung verboten, außerdem wurden Funkstörgeräte gegen ausländische Sender eingesetzt, Auslandskontakte generell überwacht. Wie schaffen Sie es, unter diesen Umständen, sich eine Meinung zu bilden?
Es gibt zwei Antworten darauf: Zunächst gibt es für diejenigen, die sich im Internetzeitalter orientieren können, immer irgendwelche Wege, an Nachrichten zu kommen. Darüber hinaus ist es, um die Situation in Xinjiang einschätzen zu können, nicht unbedingt notwendig, die Welt zu verstehen. Wobei es darüber hinaus selbstverständlich wichtig ist, die Welt zu verstehen und ebenso wichtig, zu wissen, wie viel die Welt von dem versteht, was in unserem Heimatland vor sich geht.
Sie schreiben in Ihrem Buch von Nachbarschaftskomitees, in denen unter anderen auch Uigur:innen eingesetzt werden, um Uigur:innen zu kontrollieren. Gelingt es, Misstrauen und Feindschaft unter ihnen zu säen?
Diesen Aspekt habe ich nur kurz erwähnt in meinem Buch, aber es ist sicherlich ein Thema, über das vieles gesagt werden kann. Uiguren leben innerhalb eines Systems in China, sie sind gewissermaßen Teil davon. Obwohl die uigurische Region ein kolonialisiertes Gebiet ist, spielt das Wissen darum im Alltag nicht immer eine Rolle. Die Menschen erfahren die Dinge direkter: Sie denken vor allem daran, wie sie durchkommen, an die möglichen Quellen der Freude, die erreichbar für sie sind. Sie versuchen, sich auch noch an die widrigsten Bedingungen anzupassen, um kleine Alltagsfreiheiten zu erlangen. Auf diese Art werden sie Teil des Unterdrückungssystems. Das entspricht dem Ziel der Regierung, die Kultur der Uiguren auszulöschen und sie komplett zu assimilieren.
Es gibt ein Bewusstsein für das Unrecht.
Es wäre falsch zu sagen, eine Anzahl X unterstützt die Regierung und eine Anzahl Y nicht. Denn es ist natürlich nicht so, dass das Bewusstsein für die Unrechtssituation erloschen wäre. Die Ausgangssituation ist, dass seit 1949, seit die Kommunistische Partei die Macht in unserer Region übernommen hat, den Uiguren permanent Rechte verweigert werden. Gleichzeitig wurde das Versprechen einer autonomen Region nicht eingehalten. Das führt zwangsläufig zu Forderungen. Manche beruhen auf einem intellektuellen Verständnis dessen, was nicht rechtmäßig ist, andere sind eher direkt, simpel, geradeaus: Sie reagieren auf eine spezifische Situation, in der jemandes Rechte mit Füßen getreten wurden. Aber wie auch immer die Forderung nach den Rechten ausfällt: Es ist eine Reaktion auf eine permanente und systemische Unterdrückung. Die Regierung charakterisiert diese Forderungen nach Rechten jedoch systematisch als Konterrevolution oder Aufstand, als Separatismus, Extremismus oder gar Terrorismus.
Inwiefern gibt es islamistischen Extremismus unter Uigur:innen, beziehungsweise besteht ein Einfluss aus anderen Ländern mit extremistischen Bewegungen?
Es gibt diese Tendenzen. Uiguren sind seit 1.000 Jahren ein muslimisches Volk. Die Verbreitung des Islamismus seit den 1990er Jahren in Afghanistan und anderen Teilen Asiens ging auch an der uigurischen Region nicht komplett vorbei. Es ist jedoch eine große Frage, wie wir „islamischen Extremismus“ definieren. In China gilt der Besitz eines Korans schon als extremistisch. Die chinesische Regierung hat 9/11 insofern für sich beansprucht, als sie das Konzept des Terrorismus generell auf die uigurische Minderheit anwendet. Ich interpretiere Zeichen von islamischem Extremismus vor allem als eine Entwicklung in Beziehung auf die starke Unterdrückung der Rechte und nicht als eine immanent vorhandene Tendenz. Als Intellektueller ist meine Haltung, dass ich selbstverständlich hoffe, dass jede Bestrebung sich innerhalb des Rechts äußert sowie dass wir auf Grundlage des Rechts regiert werden. Aber so funktioniert es in China leider nicht. Es gibt dort keine klare Unterscheidung zwischen Politik und Gesetz. Deshalb werden wir permanent zermalmt zwischen den Regeln des Gesetzes und Gesetzlosigkeit.
Als Sie 2017 ins Exil gingen, war weit weniger über die Situation der Uigur:innen bekannt als heute, nach diversen Leaks, Augenzeugenberichten und Ähnlichem. Hat die internationale Aufmerksamkeit die Situation in Ihren Augen beeinflusst?
Seit 2017 wurden zwischen einer und drei Millionen Uiguren interniert. Aufgrund kontinuierlicher Berichte internationaler Zeitungen und Nachrichtenagenturen sowie den Leaks wurde ein gutes Jahr später bekannt, was los war. Als Antwort auf den internationalen Druck begann die chinesische Regierung ab Ende 2019, einige Menschen aus den Camps zu entlassen.
2021 haben die USA und einige andere Länderparlamente die Geschehnisse in der Region als „Genozid“ beziehungsweise „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gewertet. Vor allem die Versuche der USA und anderer Länder, politische Verantwortliche und Firmen zu boykottieren, hat einen Effekt gehabt. Eine wesentliche Rolle spielte das Erlassen eines Gesetzes der USA gegen den Handel mit Produkten, die unter Einsatz von Zwangsarbeit in den Uigurengebieten entstehen. Zunächst hat dies zu einer Verschiebung der Situation geführt. Die internierten Menschen wurden in verschiedene Kategorien geteilt: solche, die zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, solche, die in den Camps bleiben, und solche, die in ein Leben unter Überwachung entlassen werden.
Mit Dank an Joshua L. Freeman in Taipeh für die Übersetzung aus dem Uigurischen ins Englische.
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