Kunstkollektiv aus Haiti in Karlsruhe: Zwischen Lebenden und Toten
Im Badischen Kunstverein überwindet The Living and the Dead aus Haiti Grenzen der bildenden Kunst und schafft Perspektiven auf sein gebeuteltes Land.
„Ich sah Seelen zerfallen“, sagt eine junge Frau und blickt herab auf eines der Armenviertel der Hauptstadt Port-au-Prince in Haiti. Sie ist Mitglied der Theatergruppe The Living and the Dead Ensemble. Die Szene ist Teil der Video-Installation „The Wake“, die neben anderen Produktionen des Kollektivs im Badischen Kunstverein Karlsruhe zu sehen ist. Die ungewöhnliche Ausstellung „Lanjelis“ erzählt vom Aufbegehren gegen Armut, Korruption und koloniale Strukturen. Sie speist sich aus diversen Quellen und bedient sich der Mittel von Sprache, der Poesie und des Theaters.
Dieser Ansatz, der auch politische und traditionelle Praktiken einbindet, entstand im ärmsten Land in der Region Karibik, Nord- und Südamerika. Haiti litt seit seiner Revolution, die früh zur Unabhängigkeit führte, bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter den von Frankreich aufgezwungenen horrenden Reparationen für die Plantagenbesitzer der ehemaligen Kolonie. Das Land konnte sich nie stabilisieren. Naturkatastrophen, wie auch Korruption, Drogenhandel und ein Braindrain von gut ausgebildeten Menschen taten ihr Übriges.
Die Gruppe startete 2017 mit dem Plan, das Theaterstück „Monsieur Toussaint“ des auf Martinique geborenen Schriftstellers und Philosophen Edouard Glissant aus dem Französischen ins haitianische Kreol zu übersetzen. In Kooperation mit dem Pariser Autor und Kurator Olivier Marboeuf und dem britischen Filmemacher Louis Henderson entstand der vielbeachtete Film „Ouvertures“, der 2020 bei der Berlinale uraufgeführt wurde.
Film, Theater? Wozu braucht es da noch eine Ausstellung? Das Ensemble The Living and the Dead erforscht unterschiedliche Darstellungsformen des Erzählens – Theater und Film sind nur zwei von vielen. Selbst der mehr als zweistündige Film, der sich um den haitianischen Unabhängigkeitshelden Toussaint Louverture dreht, bewegt sich unmerklich zwischen Raum und Zeit, findet immer neue Bilder, Variationen über das Thema.
Badischer Kunstverein: „Lanjelis“ von The Living and the Dead Ensemble. Bis 11. September
In den Filmen „Ouvertures“ und „These lowest depth, these deeps“ steht das Blau des Meeres für den Geist Toussaints, für Transformation, Migration und die Grauzone zwischen den Lebenden und den Toten. In der Ausstellung hingegen wecken die indigoblau gestrichenen Wände Assoziationen an den Kolonialismus. Indigo gehörte neben Zuckerrohr, Kaffee, Kakao und Baumwolle zu den Anbauprodukten der Kolonisten. Dies erzählt eine in weißer Kreide auf indigoblauem Grund angefertigte Wandzeichnung zur verwobenen Geschichte Haitis mit Europa.
Die Ausstellung macht erstmals die prozesshafte Arbeit des Ensembles The Living and the Dead deutlich. Die Kunst liegt in der Vielfalt des Erzählens. Dieses Motiv wiederholte sich auch in der etwa einstündigen Theaterproduktion „The Wake“, eine berührende Mischung aus nächtlicher Protestaktion, persönlichen Bekenntnissen und gemeinsamer Selbstvergewisserung im Schutz der Nacht.
Ähnlich der Debatten um die documenta fifteen werden kollektiv entstandene, postkoloniale Kunstwerke einem „bürgerlichen Kunstbegriff“ gegenübergestellt, der auf universelle Gültigkeit von Werken Einzelner hinzielen würde. Beim Ensemble The Living and the Dead ist diese Dichotomie zumindest löcherig geworden. Die Durchlässigkeit ihrer Erzählungen, ihr poetisches Spiel mit materiellen Anmutungen und zahllose Querverbindungen auf sprachlicher Ebene schaffen zeitgemäße Universalität.
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