Kunstausstellung in Chemnitz: Identität nicht nachgewiesen
Dank Coronahilfen erwarb der Bund zuletzt viel junge Kunst. Sie erzählt von unserer postmigrantischen Gesellschaft, wie nun in Chemnitz zu sehen ist.
Ein zartes Schachbrett ist auf dem Antrag für einen Kinderpass der Bundesrepublik Deutschland zu erkennen. Von Blatt zu Blatt bewegt sich darauf eine Bleistiftfigur. Die Visualisierung des ungleichen Spiels zwischen Individuum und Bürokratie. Sung Tieu kam als Kind eines vietnamesischen Vertragsarbeiters in die DDR. Ihre „Theoretical Draw“ wurde jüngst für die Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland angekauft und ist derzeit im Museum Gunzenhauser in Chemnitz zu sehen.
Aus rund 360 Ankäufen der vergangenen fünf Jahre werden unter dem Titel „present perfect“ gut 50 Werke von 44 in Deutschland lebenden Künstler:innen präsentiert. Viele von ihnen erzählen von Migration, von Rassismus und Stereotypisierung, aber auch von Solidarität. Bussaraporn Thongchai arbeitete in einem Frauenhaus mit Migrantinnen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden waren.
Eine ihrer düsteren Zeichnungen in Chemnitz porträtiert eine Frau aus Ostafrika, die ein Konto eröffnen wollte. Da sie keinen Reisepass, sondern nur eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, wurde ihr Antrag mit dem Stempel „Identität nicht nachgewiesen“ abgelehnt – Bussaraporn Thongchai legte Schlingen um den Hals der Frau.
Willy Brandt setzte 1971 mit dem Kauf eines ersten Kunstwerks den Anfang für die Bundeskunstsammlung. Inzwischen umfasst sie rund 2.000 Arbeiten. Sie hat kein eigenes Haus, ihr Bestand wird an Ministerien, Botschaften, das Bundeskanzleramt und an Museen verliehen. Da zumeist die günstigeren Arbeiten von jungen Künstler:innen erworben werden – der jährliche Ankaufsetat beträgt 400.000 Euro –, ist die Sammlung zugleich Archiv aktueller künstlerischer Produktion in Deutschland. Über die Ankäufe entscheidet eine Kommission aus Fachleuten, alle fünf Jahre werden sie von der Beauftragten für Kultur und Medien neu berufen.
Direkt bei Künstler:innen kaufen, nicht über die Galerie
Noch Monika Grütters initiierte das Programm Neustart Kultur, durch diese Coronahilfen standen der Sammlung 2020 und 2021 zusätzlich 4,5 Millionen Euro für Neuerwerbungen zur Verfügung. „Bedingung war, dass die Künstler:innen nicht institutionell, etwa durch eine Professur, abgesichert und nicht nur qualitativ interessant waren, sondern durchaus auch förderwürdig“, erklärt Frédéric Bußmann, Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz und Mitglied der Neustart-Jury. „Auch wurde versucht, direkt bei Künstler:innen zu kaufen.“
Neben Bußmann arbeiten Nadine Grünewald vom Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern und Hilke Wagner vom Dresdner Albertinum als drei von sieben Neustart-Jurymitgliedern in Ostdeutschland. Auf ihrer Ankaufsliste stehen merkbar viele Künstler:innen, die in Erfurt, Karl-Marx-Stadt oder Leipzig geboren sind oder studiert haben. Einige waren schon in der DDR aktiv, Osmar Osten etwa, Christine Schlegel, Angela Hampel und Gabriele Stötzer.
Die Ausstellung der Bundeskunstsammlung macht derzeit auch eine Kulturpolitik deutlich. Zeitgleich zu Chemnitz zeigt etwa das Neue Museum Nürnberg eine Auswahl aus der Sammlung. Chemnitz und Nürnberg hatten sich beide um den Titel der Kulturhauptstadt Europa 2025 beworben. Er ging nach Sachsen. Behandeln die neu erworbenen Kunstwerke Themen aus dem Osten, so werden sie vornehmlich in Nürnberg gezeigt. Darunter Sebastian Jungs Zeichenserie „Besorgte Bürger, Chemnitz, 30.08.2018“ zu den rechten Ausschreitungen am Rande eines Stadtfestes.
Im Chemnitzer Museum Gunzenhauser kann man hingegen Benedikt Terwiels Fotoserie „Imbiss am Kotti“ sehen. Sie erzählt vom Verschwinden einer typischen Berliner Kiezkultur zugunsten einer gesichtslosen Renovierung öffentlicher Plätze. Ist auf dem gepflasterten Boden zunächst noch zu erkennen, wo der Imbiss stand, sind die Spuren bald nicht mehr auf den Fotos sichtbar.
Der Künstler Stephan Janitzky stellt in Chemnitz die Frage nach den sozialen Möglichkeiten der Malerei, indem er zwei Leinwände auf den Boden legte und dazwischen Reste von Kreidestücken, die zuvor von den Besucher:innen zertreten und in die Leinwände eingearbeitet wurden.
Die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis
Die 1989 in Kabul geborene Tamina Amadyar steuerte mit ihrem abstrakten Gemälde „present perfect“ den Titel der Ausstellung bei. Eine Zeitform, die Verwendung findet, wenn etwas in der Vergangenheit begann und bis in die Gegenwart andauert. Leuchtende Farbfelder aus Grün und Blau erinnern an Wasser und Pflanzen oder auch an Hände, die keinen Halt finden.
„present perfect“: Museum Gunzenhauser, Chemnitz, bis 12. Februar 2023
Zum Ende des Ausstellungsrundgangs steht eine junge Frau barfuß auf dem Rollfeld des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof. Im Video von Pauline Boudry und Renate Lorenz spricht sie das Protokoll der 1951 verabschiedeten Genfer Konvention, das minderjährigen Geflüchteten weitreichende Rechte zusichern sollte. Daneben stellt Tilman Hornigs Europaflagge in der Kulturhauptstadt Europa 2025 die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis. Ein Großteil der goldenen Sterne auf blauem Grund ist weiß übertüncht.
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