Underground-Kunstszene im DDR-Erfurt: Es kribbelt unter den Akten

Ein Buch der Künstlerin Gabriele Stötzer zeigt, wie eine Subkultur in Erfurt zu DDR-Zeiten zwischen Selbstermächtigung und Repression stand.

Eine Reihe Schwarz-Weiß-Bilder zeigt Menschen, wie sie gerade den Eingang einer Galerie betreten. Es sind Überwachungsbilder

Fotoserie der Staatssicherheit von der Haustür der Erfurter Galerie im Flur, abgedruckt im Buch Foto: (c) Spector Books Leipzig, 2022

17. November 1976. Gabriele Stötzer tippt auf ihrer Schreibmaschine die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und unterschreibt als erste. In der Nacht, bevor sie die Liste nach Ostberlin bringen will, wird sie verhaftet. Es ist ihr erster persönlicher Kontakt mit der Staatssicherheit. Bis 1989 wird sie in vier Verfahren observiert, exmatrikuliert und inhaftiert. 12 Monate sitzt sie im Frauengefängnis Hoheneck, leitet danach eine Untergrundgalerie, die 1981 liquidiert wird.

Ihre Frauen-Punkband Erweiterter Orgasmus (EOG) probt in Erfurter Kellern. 1984 initiiert sie eine Künstlerinnengruppe – damals einmalig in der DDR – die in Super-8-Filmen, Fotografien, Performances, Mode-Objekt-Shows und Manifesten Konzepte weiblicher Selbstermächtigung, Kollektivität und Gesellschaftskritik vereinte.

Auch diese künstlerischen Gegenentwürfe blieben der Stasi nicht verborgen. Für eine Ausstellung hat Gabriele Stötzer zur Rolle der Stasi in der Erfurter Subkultur zwischen den 1960er und 80er Jahren recherchiert: „Es galt, ihr (der Staatssicherheit) mein Leben aus den Händen zu reißen, ihr die Kraft zu nehmen, indem ich ihr ins Antlitz sah.“

32 Ak­teu­r:in­nen aus Kunst und Literatur erklärten sich damit einverstanden, dass Stötzer Einsicht in deren Akten nimmt und ihre Recherche veröffentlicht. Ihr daraus entstandenes Buch „Der lange Arm der Stasi“ schildert eindrücklich eine DDR-Realität – auch dank der konzeptuellen und gestalterischen Umsetzung. 60 Personen werden mit Fotografien eingeführt.

Gabriele Stötzer: „Der lange Arm der Stasi. Die Kunstszene der 1960er, 1970er und 1980er in Erfurt – ein Bericht“. Spector Books, Leipzig 2022, 30 Euro

Ein Netz von Freundschaften und Überwachung

Die kurzen Texte in den Marginalspalten, verfasst von Co-Autorin und Herausgeberin Anne König, verorten sie in der Szene. Zwischen den Bildern spinnt sich so ein Netz von Freundschaften, Liebe, Zusammenarbeit und Überwachung. Denn von Seite zu Seite stellt sich die Frage: Spitzel oder nicht?

Auf einer Reihe farbiger Bilder werden die Verkleidungsaktionen der KÜnstlerinnen gezeigt, sie sind auch im Buch abgedruckt

Die Aktionen der Künstlerinnengruppe Erfurt, Spreadsheet aus dem Buch „Der lange Arm der Stasi“ Foto: (c) Spector Books Leipzig, 2022

Obwohl selbst Betroffene, gelingt es Stötzer in ihren Texten, die unterschiedlichen Formen der Observation sachlich zu vermitteln. Nicht zuletzt ein Begriffsglossar im Anhang macht auch für kommende Generationen greifbar, wie die Stasi neben einer Person auch deren engstes Umfeld bis hin zu Arbeitsstellen und Hochschulen kontrolliert hat: „Man fühlt sich wie eine ansteckende Kranke, die alle, mit denen sie in Kontakt war, infiziert hat.“

Gabriele Stötzer schreibt offen und ehrlich. Angst, selbst körperliche Übelkeit habe sie während der Recherche zum Buch befallen. Fotos von den Aktionen der Erfurter Szene stehen im harten Kontrast zu den Reproduktionen aus den Akten. Diese bezeugen die umfassende Überwachung: Observationsbilder zeigen Stötzer bei ihren täglichen Gängen in und aus der Wohnung, daneben ein Grundriss derselben, eine Aufnahme vom Haus.

Einmal fädelte die Stasi die Begegnung mit einem Transvestiten ein. Er sollte sie zu pornografischen Bildern animieren, mit denen man sie hätte kriminalisieren können. Doch Stötzer hat aus ihm ein Fotomodell gemacht. Die Arbeit zählt heute zu ihrer wichtigsten aus dieser Zeit.

Unterschiedliche Identitäten in selbst entworfenen Kostümen

Ein Kapitel ist den Frauen in Erfurt gewidmet. Sie treffen sich in Wohnungen und diskutieren ihre Vision eines selbstbestimmten Lebens. Mit Deckeln, Töpfen und Lampen entsteht erste Musik. In selbst entworfenen Kostümen nehmen sie unterschiedliche weibliche Identitäten an.

Sie sind Autodidaktinnen. Die DDR verlassen wollen sie nicht, in der Erfurter Punk-Szene finden sie Rückhalt, manchmal auch in der evangelischen Kirche. Zu den frühen Akteurinnen zählen Monika Andres, Verena Kyselka, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Ingrid Plöttner, Elke Karl und Harriet Wollert.

Ab 1986 produziert die Künstlerinnengruppe Erfurt jedes Jahr einen Experimentalfilm, führte etwa in „Komik-Komisch“ (1988) absurde Bewegungsabläufe auf den Dächern der Stadt auf. Die Filme waren im vergangenen Jahr Schwerpunkt der Ausstellung „Hosen haben Röcke an“ in der Berliner nGbK. Erstmals gab diese mit originalen Materialien und Kostümen Einblick in die kaum bekannte feministische Subkultur der DDR.

Wie in jener Ausstellung zeugen nun auch im Buch Briefe und Akten von ihrer steten Überwachung. Der Partner einer der Frauen unterstützte die Gruppe zwar mit Verstärker und Mikrofonen, berichtete aber auch als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) über Kunstaktionen und gab private Details wie Scheidungen und Krankheiten weiter. In der Gruppe gab es nachweislich keine weibliche IM.

All die IMs ohne Namen und Gesicht

Am 4. Dezember 1989 gehörte Gabriele Stötzer zu den Frauen, die den Startschuss gaben, um das Stasi-Bezirksgebäude in Erfurt friedlich zu besetzen. „All die IMs und offiziellen Mitarbeiter haben bis heute keine Namen und kein Gesicht“, schreibt sie und ermuntert dazu, Einsicht in die Akten zu nehmen. „So kann Frieden in uns hergestellt werden, der uns hilft, wach zu bleiben und hinter die Masken der Zeit zu schauen.“

Im Sommer 2019 hat sie bei dem Mann geklingelt, der sie in den Knast gebracht hat. Das im Buch abgedruckte Gedächtnisprotokoll jener Begegnung beschließt dieses Stück Zeitgeschichte. Es ist auch ein Stück Kunstgeschichte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.