Kunstausflug nach Frankfurt Oder: Selbst ein Blauer Engel ist dabei
Mehr als 20 Jahre stand ein Kino in Frankfurt (Oder) leer. Jetzt erzählt dort die Künstlerinnen-Gruppe Endmoräne Geschichten von Licht und Schatten.
„Den bunten Trubel der sonnigen Straße verlassend, tauche ich ein in die muffige Kühle des alten Kinos. Knisternder Fall von grüner und brauner Farbe begleitet meine Schritte auf dem zerstörten Parkett. Stille ist eingezogen nach dem letzten Applaus“, so hat treffend Diana Christen beschrieben, wie sich der Gang in die einst elegante Architektur heute anfühlt.
Ihr Text und weitere von Frankfurter:innen, die das seit 24 Jahren verlassene Gebäude begehen konnten, hängt nun zwischen Detailaufnahmen der Einrichtung, die Michaela Nasoetion gemacht hat dort, wo einst die Garderobe war.
Von einem Teilnehmer dieses Schreibprojekts hat Nasoetion wiederum von einem Film erfahren, „Yi Yi“, in dem sich zwei junge Männer über das Kino unterhalten. „Wir leben dreimal so lang, seitdem der Mensch den Film erfunden hat“, fasst der eine seine Bereicherung durch die filmischen Wirklichkeiten zusammen.
Wendepunkt in der Geschichte des Kinos
Das fand Michaela Nasoetion so interessant, dass sie Filmstills des Dialogs mit Untertiteln ausgedruckt und auf eine Wand montiert hat. Auf dem Fußboden darunter kann man die Titel alter Defa-Filme lesen, von veröffentlichten und verbotenen. So wird Kinoerinnerung konkret in einem Haus, das seit 1998 geschlossen ist – eine traurige Geschichte für viele Frankfurter:innen.
„Filmriss“, im Alten Kino Frankfurt (Oder), Heilbronner Straße 18. Geöffnet am 9./10. Juli und 16./17. Juli, 12–18 Uhr
Doch diese Geschichte ändert sich gerade. Nasoetion gehört zu der Künstlerinnengruppe Endmoräne, die jetzt zwar nur für ein paar Wochenenden ortsbezogene Werke in dem alten Kino zeigt. Aber die Künstlerinnen wurden bei der Eröffnung am 2. Juli, zu der viele Besucher aus der Stadt gekommen waren, nicht nur von Oberbürgermeister René Wilke als eine Vorhut der Zukunft begrüßt, sondern auch von Ulrike Kremeier.
Die ist Direktorin des Brandenburgischen Landesmuseums für Moderne Kunst, bisher mit einem großen Standort in Cottbus. Das alte Kino in Frankfurt (Oder) soll nach Sanierung und dem Neubau eines Erweiterungsgebäude zu einem weiteren Kunststandort werden. Ein Wettbewerb war ausgeschrieben, den das Architekturbüro BHBVT dieses Jahr gewann.
Roter Teppich für Purzelbäume
Mitten im alten Kinosaal sind rote Teppichbahnen ausgelegt. Mit ihnen zitiert die Künstlerin Barbara Müller die Welt des Kino-Glamours und schlägt in einem Video eine Nutzung vor, die später besonders die Kinder begeistert: Purzelbäume die Schräge hinab. Wilke wies bei seiner Rede über die Teppiche hinweg ans andere Ende des Saals, wo Treppen eine Art Agora bilden sollen, als Treffpunkt, Ort des Austauschs, der Diskussion.
Eine Zukunft für das Haus ist also in die Wege geleitet. Und das ist damit eine Ausnahme unter den vielen Orten, die Endmoräne seit 1991 im Sommer bespielt hat, die meisten Häuser dem Verfall preisgegeben in den Jahren nach der Wende. Oft sind sie zwischen Privatisierung und Aufgabe durch die Kommunen zu Lost Places geworden. Und mit der Arbeit vor Ort sind die Künstlerinnen aus Berlin und Brandenburg, die den Verein Endmoräne bilden, allmählich zu Spezialistinnen darin geworden, mit Erinnerungen zu spielen und Zerstörtes neu zu interpretieren.
Annette Munk hat in diesem Jahr im Kino die Stellen der Wände fotografiert, an denen Lampen abgeschraubt wurden: Und tatsächlich schauen die Löcher in der Wand und die Kabelreste den Betrachter an wie ein erstauntes Gesicht. Im Keller, wo Kohlen lagerten und Heizkessel standen, lassen Patrizia Pisani und Gisela Genthner Licht und Schatten tanzen, Bilder mit ungesichertem Status zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die aufscheinen und schon wieder verdunkelt werden, bevor man sie noch zu fassen bekommt.
Die Ausstellung hat den sprechenden Titel „Filmriss“, denn von Bruchstellen und Lücken in der Erinnerung handelt nicht nur die Geschichte dieses Hauses, sondern die deutsche Geschichte allgemein. Frankfurt (Oder) ist eine Stadt, in der der Kontrast zwischen den wenigen historischen Bauten, dem sozialistischen Wohnungsbau und der seit den 1990ern entstandenen Neubauten visuell und stadträumlich hart geschnitten ist.
Lücken klaffen, Lücken schließen
Auch darauf gehen die Künstlerinnen ein. Dort, wo im Eichenparkett Lücken klaffen – Holz geklaut? –, hat Angela Lubic Scheiben aus Dämmplatten aufgestellt, die in ihrer Staffelung, im Zickzack der Riegel, im Aufragen von Türmen an die Stadtvisionen erinnern, die keine Vorgeschichte zu kennen glauben, Tabula rasa als Ausgangspunkt nehmen, wie es viele Stadtplaner der Nachkriegszeit in Ost und West machten.
In diesem Foyer hat Berit Hummel auch ihre Video- und Soundinstallationen angebracht, die aus dem Archiv des Amateurfilmzentrums Frankfurt (Oder) schöpfen und nicht selten etwas von dem Willen ausstrahlen, eine bessere Zukunft auf den Weg zu bringen. Aber auch gelegentlich die Widerstände im Alltag erkennen lassen.
„Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt, sagt die Welt, dass er zu früh geht“ – ein Song von den Puhdys aus den 1970er Jahren, hatte einen Gastauftritt im großen Kinosaal am Samstag der Eröffnung. Der Chor der Singakademie Frankfurt (Oder) war mit verschiedenen Liedern beteiligt und am Ende ließ deren Leiter Rudolf Tiersch den Puhdy-Song als Karaoke für alle laufen. Und dabei wurden Publikum, Künstlerinnen und Chor für einen kurzen Moment zu einem Kollektiv – ein schöner Vorschein dessen, was in dem alten Kino entstehen kann.
Dessen Vergangenheit als Filmpalast, in dem auch in der Zwischenkriegszeit schon Kino gespielt wurde, zum Beispiel Filme mit Marlene Dietrich, greift Dorothea Neumann mit der Installation „Blauer Engel“ auf, einem flatterhaften Gebilde, das in blaues Licht gebadet ist. Neumann versteht das auch als Hommage an eine Schauspielerin, die Position gegen die Nazis bezog.
Neumann ist im Vorstand des Vereins Endmoräne und arbeitet seit 2007 mit an der jährlichen Organisation. Vor der Eröffnung arbeiten die Künstlerinnen zwei Wochen in einer sogenannten Sommerwerkstatt vor Ort: „Sommerwerkstatt“ klingt zwar idyllisch, bedeutet aber vor allem, viel Dreck rauszuschaffen, Sicherungsmaßnahmen vorzunehmen, Strom zu beschaffen, sich Konzepte auszudenken, die sich mit geringem Materialaufwand in den unterschiedlichsten Räumen realisieren lassen. Wie das immer wieder gelingt, ist zu bewundern.
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