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Kunst und Sex in WolfsburgDie pornografische Gesellschaft

Der Kunstverein Wolfsburg widmet sein diesjähriges Programm aktuellen Auftrittsformen von Sexualität in der digitalisierten Kultur.

In der Kunstgeschichte allgegenwärtig, nur manchmal subtiler als heute: der weibliche Körper. Foto: Claudia Mucha

Wolfsburg taz | Sexuelle Konnotationen, der – mal partiell, mal komplett entblößte – weibliche Körper sind in der Kunstgeschichte und ihrer Bildproduktion allgegenwärtig. Allerdings zog die Kunst vergangener Jahrhunderte noch enge Schamgrenzen, versuchte, einen offenen Voyeurismus im weiblichen Akt mit religiösen oder historischen Sujets zu legitimieren. Dabei entfalteten sich Bildgeschichten vielfältiger Lesart, etwa in den zahllosen Interpretationen der „Susanna im Bade“ nach den apokryphen Schriften der hebräischen Bibel.

Sie wird als verführerisches Weib, aber auch als physisch bedrängtes Opfer zweier infamer Männer und ihrer Verleumdungen inszeniert. Immer sorgte szenisch üppiges Beiwerk für Widersprüchliches, Unerklärliches oder Geheimnisvolles, für die sensitive, erotische Aufladung der körperlichen Konkretisierung, jenseits einer reinen Fleischbeschau. Diese metaphorische Wirklichkeitsüberhöhung scheint mittlerweile verloren, unsere westliche Kultur dem Furor der Transparenz erlegen: alles Uneindeutige macht misstrauisch, jedes Geheimnis ist verdächtig.

Die Kehrseite dieser völligen Offenbarung ist die Pornografisierung aller Lebensbereiche – so sieht es der Kulturphilosoph Byung-Chul Han –, ihr Gebot das Enthüllen und Entblößen, auch im abstrakten Sinne. Die offensive Selbstperformanz und permanente Eigenoptimierung wurden Zwangsfaktoren im spätkapitalistischen Wirtschaftssystem, die zu Markte getragene Persönlichkeitssphäre dient nicht erst seit der Datenpreisgabe in der Digitalisierung einer kommerziellen Ausbeutung sondergleichen.

Der Kunstverein Wolfsburg, gesellschaftstheoretisch immer am Puls der Zeit, widmet sein diesjähriges Programm aktuellen Auftrittsformen der Sexualität in der digitalisierten Kultur. In einer ersten Ausstellung geht es um das Verführen, klischeemäßig ja die weibliche Spielart sexuellen Agierens. Das Verführen ist aber auch eine Form der Machtausübung und Herrschaft: Ein Mensch wird dazu gebracht, eine Handlung zu vollziehen, die er normalerweise so nicht getätigt hätte. Besonders im Marketing sind sexualisierte Topoi, visuell wie verbal, seit Langem persuasive Mittel. Selbst die finanzschwache Bundeshauptstadt warb ja bekanntlich mit dem Selbstwertgefühl, sie sei zwar arm, aber sexy.

Zum historischen Einstieg ins Thema dienen dem Kunstverein Grafiken und Objekte der Pop-Art, jener Kunstform, die erstmals den Zusammenhang von Sexualität und Konsum ästhetisierte. Der Brite Allen Jones oder der US-Amerikaner Mel Ramos arbeiteten mit dem vulgären Sex-Appeal des Pin-ups, stellten den weiblichen Körper als konsumierbare Ware oder Fetisch dar. Trotz unübersehbar ironischer Überspitzung wurden sie sowohl von konservativer als auch feministischer Seite kritisiert.

Eine Genderdebatte in den 1990er-Jahren befragte die traditionelle Definition sozialer wie sexueller Rollenmodelle, in aktuellen künstlerischen Artikulationen liegen die Schwerpunkte nun nochmals gänzlich anders, erscheinen mitunter beängstigend. Den fiktionalen Zugriff auf den weiblichen Körper, wie ihn ja noch die figurative Pop-Art zu starken Bildern verdichtete, hat nun die authentische, persönliche Präsenz qua Selbstentblößung ersetzt, das Bild aus dem Schlafzimmer wandert in Echtzeit ins Internet.

Wobei das Schlafzimmer häufig auch das Jungmädchenzimmer sein kann, wie die pastellfarbige Webpräsenz der kanadischen Studentin und Künstlerin Carlin Brown demonstriert: sie gibt vor rosa Kamera die perfekte Lolita. Eine systemkritische Arbeit steuert Marko Schiefelbein bei. Die fünfteilige Videoarbeit des ehemaligen Meisterschülers von Candice Breitz, Kunsthochschule Braunschweig, ist einerseits das Nachstellen einer mit eindeutigen Posen arbeitenden Jeans-Werbung aus den 1980er-Jahren. In den Tonspuren konterkarieren jedoch Bekenntnisse von unter Kaufzwang Leidenden das verführerische Bild. Aber bedürften die Bildstereotype nicht auch einer visuellen Hinterfragung?

Die Kehrseite der Offenbarung ist die Pornografisierung aller Lebensbereiche

Diffus hingegen bleibt die Aussage der 8-köpfigen Künstlergruppe ACAD+C aus Kassel. Sie inszeniert ihre sogenannte performative Agentur mit eigenem Körperstyling zum schicken Werbetrailer, lädt anderseits ganz bieder auf eine Tasse Kaffee bei der Betrachtung ein. Immerhin duften die Räume des Kunstvereins nun aromatisch – und schlagen damit schon den Bogen zu einer folgenden Ausstellung, die sich mit dem fehlenden Körpergeruch der antitranspiranten Gesellschaft beschäftigen wird.

Das Jahresprogramm endet mit einer Ausstellung, zum emanzipatorischen Potenzial der Transgression. Im integrierten Raum für Freunde übertritt derweil der Berliner Illustrator und Zeichner Christoph Vieweg schon mal die Grenzen der Medien. Sein Tableau aus 364 kleinen Skizzen bildet seine spontanen Reaktionen des vergangenen Jahres auf die tagesaktuellen Nachrichten im Radio ab: auch sie mitunter nur eine weitere Spielart pornografischer Aufmerksamkeitsökonomie.

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