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Kunst-Dialog mit Fotograf Sascha WeidnerTotholz, Tränen und geschliffene Jeans

Der Kunstverein Wolfenbüttel bringt Sascha Weidners Fotografie und drei junge Künst­le­r:in­nen in einen Dialog.

Wie Tränen an der Fassade: Hui-Chen Yun bespickte die dunkle Holzver­schalung einer Brandwand mit kleinen Konvexlinsen Foto: Timur Yüksel

Der Kunstverein Wolfenbüttel feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen. 1975 wurde er maßgeblich durch Pro­fes­so­r:in­nen der Kunsthochschule Braunschweig aus der Taufe gehoben. Und weil er bis heute so ein aktives Netzwerk in die akademische Landschaft hat, wird das nun laufende Jubiläumsprogramm mit Ausstellungen vieler namhafter Künst­le­r:in­nen und aktuell wie ehemals Lehrender bestritten.

Zu diesem Braunschweiger Dunstkreis zählte auch Sascha Weidner (1974–2015). Er hatte, neben anderem, an der HBK freie Kunst mit dem Schwerpunkt Fotografie studiert und mit dem Meisterschuljahr abgeschlossen. Er debütierte zu Beginn seiner internationalen Projekt- und Ausstellungskarriere in Wolfenbüttel. Das war 2008, der Titel: „Bis es weh tut“. Weidner gab ein 140-seitiges Katalogbuch heraus, scheute nicht zurück vor dem Griff ins familiäre Fotoalbum. 2009 überließ er im Braunschweiger Museum für Photographie 1.001 postkartengroße Originalabzüge zur freien Entnahme, einzige Gegenleistung: eine schriftliche Äußerung, weshalb das jeweilige Bild Interesse weckte und mitgenommen wurde.

„Was übrig bleibt“ hieß es in Braunschweig, und man erkannte, dass Weidners existenzielle wie künstlerische Triebkraft eine, wenngleich verschlüsselte, äußerst angespannte emotionale Dramatik, Leben und Tod sowie die Familiengeschichte sind. Das wurde sein Markenzeichen, seine Fotografie ein flirrendes „autobiografisches Protokoll“, so die Eigenaussage. Seine Botschaft scheint zeitlos, aktuell bereichert eine Arbeit Weidners die Edvard-Munch-Ausstellung „Angst“ in den Kunstsammlungen Chemnitz.

Ganz leise Töne

Wie passt aber nun ein viel zu jung verstorbener Künstler ins Wolfenbütteler Jubiläumsjahr? Der Kunstverein entschied sich gegen den klassischen Rückblick und für einen offenen Erinnerungsraum als Dialog zwischen ausgewählten fotografischen Arbeiten Weidners aus seinen gut verwalteten Nachlässen und zeitgenössischen Positionen junger Künstler:innen.

Und wie so oft bei Ausstellungen des Kunstvereins Wolfenbüttel wird auch dessen Außenbereich (zumindest temporär) einbezogen und eine Arbeit im öffentlichen Raum realisiert. Als Vermittler fungierte Florian Glaubitz, Fotograf und Künstler, der 2023 in Wolfenbüttel ausgestellt hatte und jetzt sein Netzwerk aktivierte. Und das speist sich mal nicht aus Braunschweig.

Lennart Cleemann, Jahrgang 1990, ausgebildeter Architekt und Künstler, erschuf eine robuste, rund vier Meter lange Installation aus Gitterbehältern, wie sie zum Kompostieren verwendet werden. Darin lagert malerisch arrangiertes Totholz. „Living with the Dead“ versteht sich als Chiffre für den ewigen Kreislauf aller, auch menschlicher Substanz, dem er in Indien nachgespürt hatte. Eine „luftige Sperrigkeit“, so Cleemann, durchfährt so den großen Eingangsraum des Kunstvereins mit sechs von insgesamt zwölf Arbeiten Weidners.

Tränen an der Holzfassade

Fast substanzlose Eingriffe in dessen Räume steuert David Behrens bei, ebenfalls 1990 geboren. Der Hamburger versah alle Fensterflächen mit farbig schillernd bedruckten, halbtransparenten Folien. Sie schaffen eine traumhafte Lichtatmosphäre, wie er sie typisch findet für Weidners Fotografie. Behrens’ großes Triptychon, eine „mechanische Zeichnung“ aus Schleif- und Bleichvorgängen auf Jeansstoff, beschäftigt sich mit dem menschlichen Körper, dessen Inneres es zu schützen gilt.

Hui-Chen Yun, 1985 in Taiwan geboren, bevorzugt ganz leise Töne. Die Ziegel einer kleinen, mit Bleistift gezeichneten Mauer belegte sie mit getrockneten Kirschblütenblättern, inspiriert durch Weidners magische Bildnisse blühender Kirschbäume in Japan. Und die dunkle Holzverschalung einer Brandwand an einem nahen Parkplatz bespickte sie mit gut 20 kleinen Konvexlinsen: Bestandteile eines Kameraobjektivs, Sternenhimmel, Blütenblätter – Tränen?

Ausstellung „Bis es wehtut“ im Kunstverein Wolfenbüttel

Bis es wehtut – Eine Gruppenausstellung zum Werk von Sascha Weidner: bis So, 5. 10., Kunstverein Wolfenbüttel, Fassaden­installation von Hui-Chen Yun: Stobenstraße 4

Begonnen hatte das Jubiläumsjahr mit Bjørn Melhus, ein Absolvent der HBK Braunschweig und seit 2003 Professor für Virtuelle Realitäten an der Kunsthochschule Kassel, zusammen mit Julia Neuenhausen. Aus Braunschweig gebürtig, hat auch sie dort ihr Kunststudium absolviert. Im Frühsommer war der „Ideenkünstler“ Timm Ulrichs dran, der von 1972 bis 2005 „Bildhauerei und Totalkunst“ an der Kunstakademie Münster lehrte. Christiane Möbus, lange Jahre Professorin an der HBK Braunschweig, wird ab Ende Oktober das Jubiläumsjahr beschließen. Die beiden Älteren, Ulrichs und Möbus, hatten in den frühen Jahren des Kunstvereins in Wolfenbüttel ausgestellt, Möbus bereits 1976.

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