Krise in Venezuela: Überforderte Nachbarn
1,3 Millionen Venezolaner*innen leben mittlerweile in Kolumbien. Staatliche Hilfe können sie dort nicht erwarten. Dafür ist die Solidarität groß.
Eine Keksverkäuferin versprach, auf ihn aufzupassen. „Sie war mein Segen“, sagt Roybert Aponte. „Ich bin auf allen vieren in den Bus gekrochen, wie eine Katze.“ Tränen laufen ihm übers Gesicht. Der Mann mit der orangegefärbten Tolle sieht immer noch zerbrechlich aus, die Knochen stehen spitz hervor, um seine Augen sind dunkle Schatten, rechts fehlt ihm ein Zahn. Aber er wiegt jetzt 48 Kilo bei 1,79 Meter Körpergröße, erzählt er stolz. Und er kann wieder gehen.
Apontes Glück war, dass er in Cúcuta auf die Intensivstation und von dort in die Fundación Censurados kam. Die Stiftung nimmt Menschen aus Venezuela auf, die HIV-positiv sind und – wie Roybert Aponte – nicht heterosexuell sind. Die 35 Plätze reichen bei Weitem nicht. Denn wie in anderen Ländern Südamerikas sind LGBTI-Personen auch in Venezuela besonders gefährdet. Apontes zweites Glück war, dass er noch über die Grenze kam, bevor sie monatelang gesperrt wurde.
Am Samstag hat die venezolanische Regierung die Grenzübergänge zum Nachbarland Kolumbien zumindest teilweise wieder geöffnet. Auch der wichtigste, die Simón-Bolívar-Brücke zwischen dem kolumbianischen Villa del Rosario im Süden von Cúcuta und dem venezolanischen San Antonio del Táchira. Allein am ersten Tag querten 70.000 Menschen die Grenze, sagt der Direktor der kolumbianischen Migrationsbehörde, Christian Krüger Sarmiento. Das sind so viele, wie vor der Schließung täglich ein und aus gingen. Mit einem Unterschied: Am Samstag betraten 37.000 Venezolaner*innen Kolumbien und 40.0000 verließen das Land. Vor der Schließung war es so, dass jeden Tag Tausende in Kolumbien blieben.
Grenze erstmals seit Februar offen
Die Schließung im Februar war die Reaktion von Venezuelas Präsident Nicolás Maduro auf das Solidaritätskonzert in Cúcuta, das auf die dramatische humanitäre Situation im Nachbarland aufmerksam machen sollte. Mit der Aktion hatte der selbsternannte Übergangspräsident Juan Guaidó versucht, Hilfsgüter nach Venezuela zu schaffen. Ein Versuch, der genauso misslang wie seine späteren Bemühungen, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen. Ob Venezuela die Grenze dauerhaft öffnet, ist unklar. Fest steht, dass die Schließung die Situation im Grenzgebiet für Flüchtlinge deutlich gefährlicher gemacht hat.
Denn weil die venezolanische Grenzpolizei nur noch Mütter mit kleinen Kindern, Alte und Kranke über die Grenzbrücke ließ, versuchten jeden Tag Tausende, über die illegalen Grenzübergänge nach Kolumbien einzureisen. Doch auf den „trochas“ lauerten und lauern kriminelle Gruppen: kolumbianische Guerillas, Maduro-treue Schlägertrupps und Drogenbanden. Monatelang kreuzten schwer bepackte Menschen auf jenen Trampelpfaden rechts und links der Simón-Bolívar-Brücke den Grenzfluss Táchira – und mussten sich gegen skrupellose Entführer, Erpresser und Vergewaltiger zur Wehr setzen.
Doch all die Gefahren hielten die Venezolaner*innen nicht auf. Roybert Aponte, der unterernährte Diabetiker, wird nun mit dem Bus zu seinem Onkel nach Bucaramanga fahren, der Hauptstadt der angrenzenden Provinz Santander. Tausende gehen die 195 Kilometer von Cúcuta zu Fuß.
Für sie hat das Rote Kreuz eine Karte entwickelt, welche die Mitarbeiter*innen im medizinischen Versorgungsposten wenige Kilometer von der Simón-Bolívar-Brücke an die erschöpften Menschen verteilen, mit Notfallrufnummern, Kilometerangaben – und vor allem Temperaturwerten. Die Strecke führt durch den Páramo de Berlín, eine Hochtundra auf 3.000 Metern, in der oft eisige null Grad herrschen. Temperaturen, auf die viele caminantes nicht vorbereitet sind und die schon einige das Leben gekostet haben.
Schon vier Millionen im Exil
Vier Millionen Venezolaner*innen haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR bereits ihr Land verlassen. Gut ein Drittel von ihnen leben heute im Kolumbien. Es ist die größte Migration in der lateinamerikanischen Geschichte. Der kolumbianische Außenminister Carlos Holmes Trujillo sagte beim Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas im Mai, dass er mit 1,8 Millionen weiteren Flüchtlingen rechnet, sollte die politische und wirtschaftliche Krise in Venezuela anhalten.
Derzeit sieht es ganz danach aus. Präsident Maduro ist trotz der Massenproteste gegen seine Regierung immer noch an der Macht, die Armee steht nach der gescheiterten „Operation Freiheit“ der Opposition weiter geschlossen hinter Maduro. Selbst Herausforderer Guaidó musste nach dem verpufften Putschversuch einräumen, dass er die Unterstützung der Armee für den Umsturz überschätzt hatte.
Eine Regierung aber, die die humanitäre Krise im Land nicht anerkennt und Hilfe von außen kategorisch ablehnt, wird wohl kaum den Massenexodus ihrer Bürger*innen stoppen können. Bis Ende dieses Jahres sollen knapp 16 Prozent der Bevölkerung – etwa 5,3 Millionen – das Land verlassen haben, schätzt das UNHCR. Dass Peru seine Einreisebestimmungen ab Mitte Juni massiv verschärft, dürfte viele von der Weiterreise abhalten und die Situation in Kolumbien weiter anspannen.
Die vielen Flüchtlinge im Land belastet vor allem das Gesundheitssystem. Erst Ende Mai warnte der kolumbianische Außenminister Carlos Holmes Trujillo vor der Überlastung der staatlichen Ressourcen. „Mehr internationale Hilfe ist dringend nötig, weil die Migration immer weiter zunimmt und damit auch der Bedarf an Ressourcen.“ Tatsächlich sind die Venezolaner*innen aus dem Straßenbild schon längst nicht mehr wegzudenken: Nicht nur im Grenzort Cúcuta putzen sie Scheiben, jonglieren oder verkaufen Blumen, Bonbons, Kekse oder Stifte.
Historisch eng verbunden
Auch in der Hauptstadt Bogotá sieht man sie an Ampeln und in den öffentlichen Bussen, manche bitten mit Pappschildern und kleinen Kindern auf dem Arm um Almosen. Legale Arbeit finden die wenigsten. Wer irgendwo einen Job ergattert, muss damit rechnen, ausgebeutet zu werden, vor allem auch in der wuseligen Handelsstadt Cúcuta.
Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region sei die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Migrant*innen aber gering, sagt Jozef Merkx, Repräsentant des UNHCR in Kolumbien. Die beiden Länder sind historisch eng verbunden. Viele Kolumbianer*innen flüchteten in dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg vor der Gewalt nach Venezuela, als es dem Land noch gut ging. Deshalb gibt es viele gemischte Familien, die jetzt nach Kolumbien zurückkehren.
Vor allem vertrat die Regierung in Bogotá stets die Haltung, dass Kolumbien den „venezolanischen Brüdern“ helfen müsse, und hat deshalb die legalen Aufenthaltsmöglichkeiten für Venezolaner*innen erleichtert. Infrastruktur oder gar Leistungen für Flüchtlinge wie in Deutschland gibt es so gut wie nicht – genauso wenig wie für die eigenen über sieben Millionen Binnenflüchtlinge, die das Ergebnis von mehr als 50 Jahren bewaffneten Konflikts zwischen linken Guerillagruppen, Staat und Paramilitärs sind.
„Kolumbien hat Erfahrung darin, Flüchtlinge zu produzieren, aber nicht damit, welche aufzunehmen“, glaubt Merkx. Vor drei Jahren sollte er im Zuge des Friedensabkommens mit der größten Rebellengruppe Farc eigentlich die Präsenz des UNHCR abwickeln. Doch dann kam die Massenflucht aus Venezuela, und Kolumbien blieb ein Brennpunkt. Im März eröffneten die Vereinten Nationen und der UNHCR an der Grenze das erste Flüchtlingslager für Migrant*innen aus Venezuela: eine Zeltsiedlung für 200 Menschen im nördlichsten Zipfel Kolumbiens, der Wüstenregion La Guajira. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Deswegen springen viele Kolumbianer*innen ein. Menschen wie Henry Ardila.
Endlich eine Cola
Eines Nachts standen sie vor seiner Tür, erzählt der Schuhfabrikant aus Las Delicias, einem Stadtteil von Cúcuta. Drei Frauen und vier Männer, es war stockdunkel, Abendbrotzeit, und die sieben Venezolaner*innen hatten den ganzen Tag nichts gegessen. „Da habe ich sie eingeladen, mit uns zu essen“, sagt Ardila. Maisfladen mit Käse und Coca-Cola. „Die hatten sie sich gewünscht, weil sie in Venezuela so lange keine mehr bekommen hatten“, sagt Ardila, ein kleiner, kräftiger Mann mit Strubbelhaar, Shorts und dem gelben Trikot der Nationalmannschaft. Sie blieben fünf Tage. Die Frauen schliefen bei Henrys Familie, die Männer gegenüber bei den Nachbarn.
So fing das vor über einem Jahr an mit den Flüchtlingen in Las Delicias. Viele Familien haben ihr Haus für Menschen aus dem Nachbarland geöffnet. Derzeit leben etwa 250 Flüchtlinge bei Familien in Las Delicias. Sie bleiben ein paar Tage, Wochen, Monate. Henry Ardila und seine Familie haben in ihrem bescheidenen Heim bislang etwa 60 Venezolaner*innen aufgenommen.
Henry Ardila ist Schuhfabrikant. In seinem Haus näht er mit seinen sieben Mitarbeiterinnen Einzelteile zu Schuhen für eine größere Firma in Cúcuta zusammen. Tagsüber ist das Zimmer voll mit den beiden alten Nähmaschinen und den Nachbarinnen, die bei Ardila arbeiten. „Ganz am Anfang haben sie Henry hier im Viertel komisch angeschaut“, sagt Nachbarin und Näherin Liseth. „Aber heute ist die Beziehung zu den Venezolaner*innen normal.“ Tatsächlich lässt sich am Umgang miteinander nicht erraten, wer Verwandte, Nachbarinnen oder Flüchtlinge sind. „Wir sind alle Brüder und Schwestern“, sagt Henry Ardila, der tief gläubig ist.
Und tatsächlich teilen die Bewohner*innen und die Flüchtlinge nicht nur die Häuser. Rund die Hälfte der Bewohner*innen von Las Delicias sind selbst Vertriebene. Und alle, die sich in der illegalen Siedlung außerhalb Cúcutas niedergelassen haben, kennen die Armut. Bis vor Kurzem gab es in Las Delicias weder Strom noch fließend Wasser. Erst 2016 hat die Stadt Cúcuta die Siedlung legalisiert. Die Familie, der das Land gehört, verkaufte den Grund zu einem symbolischen Preis an die neuen Bewohner*innen. Mit der Legalisierung kam die Infrastruktur – und vor gut einem Jahr begannen die Anwohner*innen, Flüchtlinge aus Venezuela aufzunehmen.
Vertriebene helfen Vertriebenen
„Wir verstehen nicht, warum sie das tun“, sagt Tiana Anaya vom UNHCR, die die Gemeinde schon lange vor dem ersten Flüchtling aus Venezuela betreute. „Das lässt sich wissenschaftlich nicht erklären.“ Was Anaya aber weiß: Die Gastfreundschaft hat mit der eigenen Lebenserfahrung zu tun. „Sie sagen: Wir wissen, was sie erleben, denn wir haben das selbst durchgemacht.“
Henry Ardila ist zwar kein Binnenflüchtling. Doch auch er hat sein Land unfreiwillig verlassen. Neun Jahre lebte der Kolumbianer in Venezuela. „Ich hatte hier in Cúcuta eine Schuhfirma mit zwölf Mitarbeiter*innen, aber ich wurde von Banden erpresst“, behauptet er. Irgendwann sei das Schutzgeld so hoch gewesen, dass er ins Nachbarland gehen musste. Vor fünf Jahren kehrte er wieder in seine Heimatstadt zurück und wagte einen zweiten Versuch mit seiner Schuhfabrik.
„Ich glaube, es war Gott, der die Venezolaner*innen zu mir brachte“, sagt Henry Ardila. „Mir ist es genauso passiert. Ich klopfte an, und sie öffneten mir.“ Jetzt teilen er und seine Familie ihr Heim und ihr oft knappes Essen mit ihnen. Und Henry Ardila gibt denen Arbeit, die bei ihm wohnen. Die Firma bezahlt Ardila für die abgelieferten Schuhe jede Woche zwischen 143 und 171 Euro, sagt er. Yuzmaira, eine 40-jährige Venezolanerin, die mit ihren beiden Söhnen bei ihm wohnt und für ihn arbeitet, bekommt von ihm 15.000 Peso am Tag, etwa 4,20 Euro.
Die Frau im pinkfarbenen Glitzer-T-Shirt mit dem Wort „Love“ und der Venezuela-Schirmmütze spricht voller Dankbarkeit von ihrem Arbeitgeber und scherzt mit ihren Kolleginnen. Doch fragt man sie nach ihrem Land, schießen ihr Tränen in die Augen. „Ich liebe mein Venezuela“, sagt Yuzmaira. „Ich hatte meine Heimat, meine Familie, mein Haus.“ Weil ihr ältester Sohn, der Polizist ist, nach seinem Kündigungswunsch Repressalien fürchtete, floh die halbe Familie. Eltern, Bruder, Schwester und Nichte sind noch in Venezuela. Aber an Rückkehr ist erst einmal nicht zu denken, auch weil die Wirtschaftskrise ihr Land beutelt. Auch ihr Sohn hat jetzt eine Arbeit in einer Schuhfabrik in der Stadt.
Der großzügige Schuhfabrikant Henry Ardila jedoch gibt sich ganz bescheiden: „Ich habe einen Traum“, sagt er. „Ich will vielen Leuten etwas beibringen, vor allem Venezolaner*innen.“ Alle hätten das Recht, etwas zu lernen, so Henry Ardila. „Wenn sie ein Handwerk beherrschen, können sie überall überleben.“
Die Recherche wurde unterstützt von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).
Update 13.9.2019: Roybert Aponte ist tot. Was genau geschah, ist unklar. Die Hoffnung auf seine Verwandtschaft in Bucaramanga wurde enttäuscht. Er wusste zeitweise nicht, wo er schlafen sollte, konnte nicht genug Essen auftreiben und magerte wieder ab. Dabei hatte ihm die Hilfsorganisation UNHCR noch Zugang zum kolumbianischen Gesundheitssystem Sisben und Diabetes-Medikamente verschafft. Mitte August wurde er ausgeraubt. Er war verzweifelt. Wenige Tage später reiste er zurück nach Venezuela, wo er knapp eine Woche später starb. Er wurde 26 Jahre alt.
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