Ein Jahr nach dem Friedensabkommen: Sie kämpfen immer weiter

Vor einem Jahr ist in Kolumbien das Friedensabkommen mit den Farc-Rebellen in Kraft getreten. Doch die Umsetzung läuft schleppend.

Ein Mann und eine Frau vor einem Haus

Die ehemaligen Guerilleros werden bald Eltern: Maricela Arce und Esnyder Brisancia in einer Farc-Zone südwestlich von Bogotá Foto: Sebastian Erb

ICONONZO/RIOSUCIO/BOGOTÁ taz | Es gibt Momente, in denen ist Maricela Arce ihr neues Leben viel zu kompliziert. Immer diese Entscheidungen. Was gibt es heute zu tun? Welche Klamotten soll sie anziehen? Was einkaufen? Und überhaupt: Was will sie eigentlich?

Anderes vermisst sie ganz und gar nicht. Die Schusswechsel, die Angst, aus der Luft bombardiert zu werden, und vor allem nicht die langen Märsche mit dem schweren Rucksack.

Maricela Arce ist 33 Jahre alt, eine Frau mit sachter Stimme, der man nicht ansieht, dass sie mehr als ihr halbes Leben lang Guerillera war. Sie wollte gegen die Ungleichheit im Land kämpfen und den Paramilitärs etwas entgegensetzen, sagt sie heute. Aber es war auch Abenteuerlust dabei. Sie war erst 15, als sie, ohne sich zu verabschieden, ihre Familie verließ und aufseiten der Revolutionsarmee Farc in den Krieg zog.

In der Guerilla waren ihre Aufgaben klar und von oben bestimmt. Sie kämpfte in der 40. Front, vor allem im Departamento del Meta, und lernte dort ihren Lebensgefährten kennen, vor neun Jahren war das. Sie lebten zusammen, sie kämpften zusammen. Es war ein schönes Leben, sagt sie, trotz allem. Dann endete der Krieg.

Ein ziviles Leben

Vier Jahre lang hatten Regierung und Guerilla auf Kuba verhandelt, bis das Friedensabkommen stand. Dann grätschte das Volk dazwischen, eine knappe Mehrheit lehnte das Abkommen ab. Präsident Juan Manuel Santos schwenkte – mit Rückenwind durch den Friedensnobelpreis – auf einen Plan B um. Vor genau einem Jahr haben er und der Farc-Chef den nur leicht überarbeiteten Vertrag unterzeichnet.

Ein Jahr Frieden also nach fünf Jahrzehnten Bürgerkrieg. Frieden? Wirklich?

Wer in diesen Tagen durch Kolumbien fährt, kann Frieden finden – in Regionen, die vorher gefährlich waren und jetzt zu bereisen sind. Auch in den sogenannten Übergangszonen, in denen vor knapp einem halben Jahr 7.000 Farc-Kämpfer ihre Waffen abgegeben haben. Aber es gibt auch Landesteile, in denen der Konflikt neu aufflammt, weil die Farc-Kämpfer ein Machtvakuum hinterlassen haben, das jetzt andere Gruppen füllen. Im Chocó etwa, der schwer zugänglichen Region zwischen Karibik und Pazifik, sagen viele: Es ist jetzt schlimmer als zuvor.

Maricela Arce und ihr Partner wechseln heute nicht mehr ständig ihren Aufenthaltsort. Sie führen nun ein ziviles Leben in einem neu gegründeten Dorf, in der Farc-Zone Antonio ­Nariño. Sie liegt bei Icononzo, ein paar Autostunden südwestlich der Hauptstadt Bogotá. Baracken mit Wellblechdächern stehen auf den Hügeln, verbunden durch Schotterwege und Lehm­pfa­de, es gibt Hütten mit Gemeinschaftsbädern und einen Fußballplatz. Gut 200 Menschen leben hier, knapp die Hälfte Frauen. Der Ort wird bewacht von Soldaten der kolumbianischen Armee, die in Kampfmontur an der Schotterstraße strammstehen.

Ihren Kampfnamen benutzt sie weiter

Eine große Entscheidung haben Maricela und ihr Lebensgefährte bereits getroffen: Sie gründen eine Familie. Maricela ist schwanger, 38. Woche, jeden Moment kann es so weit sein. Die Farc-Kämpfer wollten die Revolution, und jetzt bekommen sie Kinder.

Maricela Arce ist ihr Kampfname, den benutzt sie weiter. Unter diesem Namen kennt man sie ja. In dem Häuschen, in dem sie jetzt wohnen, weiß und blau angestrichen, baut Arces Lebensgefährte gerade das alte Bett ab und ein neues aus Holz auf, es ist größer und gemütlicher. Es soll alles schön sein, wenn das Kind kommt. Mit dem Wiedereingliederungsgeld, umgerechnet rund 570 Euro pro Person, haben sie einen Flachbildfernseher gekauft und einen Kühlschrank. Den Boden im Haus haben sie bereits neu gemacht, jetzt kommt noch der überdachte Eingangsbereich dran. Vor dem Haus wachsen in einem Beet Tomaten, Karotten und Bananenstauden. Bald werden sie das erste Mal ernten können.

Verschlechtert hat sich die Lage vor allem in den abgelegenen Gebieten, wo viele den Staat nur aus dem Fernsehen kennen

Maricela Arce will ihr Kind gerne hier aufziehen. „Es soll ein ganz normales Dorf sein“, sagt sie, „aber mit weniger Korruption und Kriminalität und mehr Solidarität.“

Eines der ersten Dinge, die sie sich zulegte, als sie vor einem Jahr in die Zone kamen, war ein Smartphone. Damit hat sie ganz schnell bei Facebook ihre Schwester gefunden. Ein bisschen schaudert ihr bei dem Gedanken, dass ihre Eltern und Geschwister bald jeden Tag in der Familien-WhatsApp-Gruppe nach einem Babyfoto fragen werden. Die ständige Erreichbarkeit ist neu für sie, sie geht ihr mitunter auf die Nerven.

Gekommen um zu bleiben

In der Guerilla waren Kinder ein Störfaktor, die Kämpferinnen wurden gezwungen abzutreiben oder mussten ihr Neugeborenes weggeben. Der Friedensschluss brachte einen Babyboom. In Antonio Nariño leben inzwischen 14 Kinder, 19 weitere sind unterwegs. Deshalb soll bald ein Kindergarten eröffnen. Das Haus steht schon, es fehlen noch Möbel und Spielsachen.

Überhaupt verläuft alles ziemlich schleppend, erst im Juni waren die Häuser bezugsfertig. Bis dahin schliefen sie wie vorher unter aufgespannten Plastikplanen. Vieles mussten sie selber machen, etwa zusätzliche Wasserrohre verlegen. Die Regierung erfüllte ihre Zusagen nicht oder nur zögerlich, so beschweren sich viele, auch in anderen Zonen. Manche der früheren Guerilleros bekommen offenbar auch ihre monatliche Geldzahlung nicht, sie liegt knapp unter dem Mindestlohn.

Die Zonen sollten eigentlich nur für den Übergang da sein, bevor dann die Exkämpfer – im Idealfall gut auf einen neuen Job vorbereitet – ihrer eigenen Wege gehen. So hat die Regierung sich das vorgestellt. Aber die Farc-Leute sind aus dem Dschungel gekommen, um zu bleiben. Zumindest ein Teil von ihnen will Kooperativen gründen.

Das Abkommen Nachdem das Friedensabkommen von Havanna Anfang Oktober 2016 bei einer Volksabstimmung abgelehnt wurde, wurde es leicht überarbeitet und am 24. November 2016 von Präsident Santos und Farc-Chef Timochenko unterschrieben. Am 1. Dezember verabschiedete es der Kongress.

Die WahlenIm März 2018 wird in Kolumbien ein neues Parlament gewählt. Im Mai und Juni findet die Präsidentschaftswahl in zwei Runden statt. Gute Chancen werden dem ehemaligen Vizepräsidenten Germán Vargas Lleras eingeräumt. Für die Liberalen tritt der Chefunterhändler der Regierung beim Friedensvertrag, Humberto de la Calle, an. Eine Mitte-links-Allianz will einen gemeinsamen Kandidaten aufstellen.

Die FarcDie „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee“ (Farc-EP) wurden 1964 als marxistisch-leninistische Guerilla gegründet. Inzwischen haben knapp 7.000 Kämpfer ihre Waffen abgeben. Unter dem Namen „Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes“ ist die Farc seit September nun eine Partei.

In der Zone Antonio Nariño haben die ehemaligen Kämpfer eine Schneiderei mit einem halben Dutzend Nähmaschinen ausgestattet – Maricela hat hier einen Nähkurs gemacht – und ein Restaurant eröffnet. Sie planen, Obst und Gemüse anzubauen und ein Ökotourismusprojekt aufzuziehen. Sie wollen sich nicht auseinandertreiben lassen, sagt Maricela Arce. Sondern weiter gemeinsam für ihr Ziel einer besseren Welt kämpfen. Nur eben ohne Waffen.

Mindestens 25 Farc-Mitglieder ermordet

Die Farc wollen auch Politik machen, deswegen sind sie nun offiziell als Partei eingetragen. Die Abkürzung ist geblieben, ihren Namen haben sie geändert:. Aus den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ wurde die „Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes“.

Früh am Morgen, es wird gerade hell, läuft Pastor Alape durch Gate 73C des Flughafens El Dorado in Bogotá und steigt in den Bus, der die Passagiere zum Flugzeug bringen wird. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd, er sieht aus wie ein Geschäftsmann. Die Fluglinie Satena gehört der Armee, deshalb steht die Propellermaschine im militärischen Teil des Flughafens. Sie rollt zur Startbahn und hebt ab. Nebelschwaden über Bogotá, das Flugzeug dreht eine Linkskurve, grüne Hügel blitzen unter der Wolkendecke auf. Ein paar Turbulenzen. Pastor Alape schaut auf sein Smartphone, Terminvorbereitung.

Der 58-Jährige kämpfte fast vier Jahrzehnte in der Guerilla, war zuletzt Mitglied des siebenköpfigen Führungsgremiums der Farc und sitzt im Vorstand der neuen Partei. Er ist jetzt Politiker, seinen Kampfnamen hat auch er behalten.

Das Jahr nach dem Friedensschluss ist für ihn vor allem eine Enttäuschung. „Die Regierung hält ihre Versprechen nicht ein“, sagt er. Er kritisiert, dass die vereinbarte Übergangsjustiz, die Täter auf allen Seiten bestrafen und vor allem den Opfern gerecht werden soll, nun aufgeweicht wird. Für ihn ist das ein Versuch, „die Wahrheitssuche zu sabotieren“. Auch ein Problem: Die nun unbewaffneten Exguerilleros können nicht überall sicher leben. Mindestens 25 Farc-Mitglieder sollen in den vergangenen zwölf Monaten ermordet worden sein.

Regionaler Ableger der Farc-Partei

Trotzdem: Die Waffen niederzulegen, das war die beste Entscheidung, die sie treffen konnten, davon ist Pastor Alape nach wie vor überzeugt.

Die Maschine landet auf dem Innenstadtflughafen von Medellín. Pastor Alape ist der Erste, der aussteigt, sein Leibwächter läuft neben ihm über das Rollfeld. Pastor Alape muss sich beeilen, er hat ein Treffen in der Regionalregierung. Und morgen werden sie hier die Gründung des regionales Ablegers der Farc-Partei feiern. Diese aufzubauen sei ein Fest, wird er bei dieser Gelegenheit in eine Kamera sagen.

Vielen im Land gefällt es nicht, dass die Farc nun eine legale politische Partei sind und dass sogar Farc-Chef Rodrigo Londoño alias Timochenko als Präsidentschaftskandidat antritt. Vor allem Politiker ganz rechts außen vom Centro Democrático, der Partei des Expräsidenten Álvaro Uribe, halten die Entwicklung für dramatisch. Ihre Partei hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden Frühjahr Santos’ Nachfolger zu stellen, der jetzige Präsident darf nicht noch mal antreten. Noch hat sich Uribe nicht für einen Kandidaten entschieden.

Senator José Obdulio Gaviria war Uribes Präsidentenberater und zählt nach wie vor zu seinen engsten Vertrauten. Im Parlamentsgebäude im historischen Zentrum von Bogotá sitzt er in einem Salon auf einem Sofa mit lila und gelben Kissen und erklärt, warum seine Partei gegen das Friedensabkommen kämpft. Sein Lieblingswort dabei: illegitim.

Bilanz ist sehr gemischt

Dem gesamten Abkommen fehle die Legitimität, sagt er, und im vergangenen Jahr habe sich im Land gar nichts verbessert. Dass die Farc ihre Waffen abgegeben haben, bezeichnet Gaviria erst auf Nachfrage als „günstiges Element“. Die Besetzung der Wahrheitskommission, die den Konflikt schonungslos aufarbeiten soll, und die Berufung der Richter für die Übergangsjustiz: für ihn genauso illegitim wie die Tatsache, dass die Farc für eine Übergangszeit Parlamentssitze sicher haben und dass selbst Guerilleros, die schwere Verbrechen begangen haben, ohne Gefängnisstrafe davonkommen können.

Im Klartext heißt das: Wenn Uribe und seine Leute die Wahlen gewinnen, droht das Friedensabkommen in weiten Teilen nicht umgesetzt zu werden. Vor allem wird es keine Landreform geben, die den Kleinbauern zu mehr Rechten verhilft. Keiner weiß, wie die Farc darauf reagieren wird.

Ein Jahr nach dem Friedensabkommen ist die Bilanz sehr gemischt. In dieser Woche hat die Stiftung Paz y Reconciliación die Ergebnisse einer Untersuchung vorgelegt. „Der Krieg ist vorbei, der Postkonflikt ist in Gefahr“, haben die Sozialwissenschaftler ihren 264 Seiten langen Bericht überschrieben. Die Waffenabgabe der Farc habe hervorragend funktioniert: 1,3 Waffen pro Guerillero wurden an die Vereinten Nationen übergeben, ein Rekordwert. Vor ein paar Jahren gab es noch 2.000 Minenopfer im Jahr, jetzt 13. Die Zahl der Morde im Land ging genauso zurück wie die der Binnenvertreibungen. Das sind die guten Nachrichten.

Die schlechten: Von 24 Gesetzesreformen des Friedensabkommens hat der Kongress bislang nur acht umgesetzt. Es wird mehr Koka angebaut, der Bau von Straßen und anderer Infrastruktur läuft nicht so richtig an. 1.000 Farc-Mitglieder sind noch im Gefängnis, trotz Amnestiegesetz. Mehr als 700 Guerilleros kämpfen in unterschiedlichen Gruppen weiter. In 70 Gemeinden, in denen die Farc-Rebellen präsent waren, ist neue Gewalt ausgebrochen, heftiger als zuvor. Es gibt jetzt Orte mit einem Dutzend gewalttätiger Gruppen, die kaum jemand auseinanderhalten kann. Alle vier Tage wird in Kolumbien ein Aktivist der sozialen Bewegungen umgebracht.

Street Art meets Jungle

Verschlimmert hat sich die Lage vor allem in den abgelegenen Gebieten an den Landesgrenzen und am Pazifik, wo viele den Staat nur aus dem Fernsehen kennen.

Riosucio im Nordwesten Kolumbiens, in Richtung Panama: Gerade einmal 40.000 Menschen leben hier in einem Gebiet, das doppelt so groß ist wie das Saarland. Auch in dieser Gegend gibt es eine Farc-Zone. Dort haben sie Sprayer aus Medellín engagiert, um die Wände der Häuser zu verschönern. „Rebelde“ steht auf einem Haus, auf einem anderen ist ein großer Jaguar zu sehen. Street Art meets Jungle.

Die Region war lange unter Kontrolle der Farc-Rebellen. Nicht weit von hier wurden 1994 bei einem Massaker der Guerilla 35 Menschen getötet. Als 2016, kurz vor der Volksabstimmung über den Friedensvertrag, Farc-Chefs die Familien der Opfer um Entschuldigung baten, war auch Pastor Alape dabei.

Es ist heiß und feucht in Riosucio. Die einzige Straße, die in den Ort führt, blockiert seit zwei Tagen ein im Schlamm festsitzender Lkw, an die 50 Tonnen Holz hat er geladen. Riosucio heißt übersetzt „schmutziger Fluss“. Tatsächlich ist der Río Atrato, der durch den Ort fließt und regelmäßig über die Ufer tritt, mit Quecksilber verseucht, weil flussaufwärts illegal Gold abgebaut wird.

So auf den Frieden gefreut, aber er kam nicht

Die Region hat eine hohe strategische Bedeutung. Ein Korridor verläuft hier zum Schmuggeln von Drogen, Waffen und Rohstoffen. Deshalb haben verschiedene bewaffnete Gruppen Interesse, das Gebiet zu kontrollieren. Und deshalb musste Maritza Carpio, 37 Jahre alt, mit ihrer Familie aus ihrem Dorf fliehen, gemeinsam mit einem Dutzend anderer Familien.

Ihr Dorf heißt Juin Duur, es liegt ein paar Bootsstunden von Riosucio entfernt. Die Carpios sind Indigene vom Volk der Wounaan, sprechen vor allem dessen Sprache.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Sie hätten sich so auf den Frieden gefreut, sagt Maritza Carpio. Aber er kam nicht. Gekommen sind Anfang 2017 erst Guerilleros der Nationalen Befreiungsarmee ELN und wenig später Paramilitärs vom Clan del Golfo. Die Organisation ist der wohl größte Player im kolumbianischen Drogengeschäft und einer der größten Profiteure der Farc-Demobilisierung.

Auch die ELN hat viel Land gut­gemacht, seid die Farc keine Gebiete mehr kontrollieren. Die Guerilla mit ihren rund 1.500 Kämpfern ist dezentraler aufgestellt und weniger hierarchisch. Deshalb hilft es wenig, dass sie inzwischen auch über einen Friedensvertrag verhandelt. Der Teil der Guerilla, der im Chocó agiert, macht da nämlich nicht mit.

Nicht mehr frei bewegen, jagen oder fischen

Um sich gegen den Feind abzusichern, legen die ELN-Kämpfer auch Minen. Die aber unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung. Mindestens ein Indigener wurde durch eine Mine getötet, mehrere verletzt. Sie können sich nicht mehr frei bewegen, sie können nicht mehr richtig jagen und fischen.

Als dann Ende August eine 22-Jährige starb, weil sie in ein Feuergefecht ­zwischen ELN und Paramilitärs geriet, riefen Maritza Carpio und die anderen um Hilfe. Das Rathaus in Riosucio schickte Boote, sie konnten nur ein paar Kleider mitnehmen. Ihre Reisernte: verloren.

Jetzt wohnen sie seit fast drei Monaten am Rand von Riosucio. Auf die Schnelle wurde ein Holzhaus auf Stelzen hergerichtet, Küche und Wassertank erneuert. Die deutsche Diakonie entsandte dafür ein Nothilfeteam. Sechs Familien teilen sich das Haus, abends legen sie in dem einzigen Raum die Matratzen zum Schlafen aus.

Maritza Carpio sitzt barfuß inmitten der Hütte auf dem Boden und hält ihre jüngste Tochter auf dem Schoß. Ihre anderen vier Kinder schwirren irgendwo draußen herum, ihr Mann ist auf einer Versammlung. Vor zwei Wochen ist er noch mal in ihr Dorf zurückgekehrt, um zu schauen, ob sich die Lage gebessert hat. Hat sie sich nicht.

„Wir sind alle bedroht“

Maritza Carpio macht das traurig, denn so richtig gut gefällt es ihr hier nicht. Allein schon der Fluss, der ist ja so schmutzig. Wie soll man hier leben? Es ist nicht so, dass sie die Farc vermissen würde. „Aber die Guerilleros haben uns Indigene zumindest immer respektiert.“ Das sei jetzt anders. Sie steht auf und stellt ihre Tochter in einen Plastik­laufstuhl. „Dieser Krieg“, sagt sie, „hört leider niemals auf.“

Ein Militärhubschrauber dröhnt über die Hütte hinweg, auf dem Fluss patrouilliert ein Boot der Marine­infanterie. Hier in der Stadt versucht der Staat Präsenz zu zeigen, ohne viel ausrichten zu können.

Dabei bräuchten viele seine Unterstützung. Aktivisten von Organisationen, die in Riosucio die indigene und die Afrobevölkerung vertreten, haben Angst, offen zu sprechen. Sie sagen Sätze wie: „Sie wollen uns einschüchtern“, oder: „Wir sind alle bedroht.“ Sie sind sich einig: Mit den Farc-Rebellen war es nicht so schlimm, mit ihnen konnte man einen Weg finden, nebeneinander zu existieren.

Sebastian Erb, 33, ist Redakteur der taz am wochenende. Er recherchierte in Kolumbien zum Teil auf einer Pressereise, die von der Diakonie Katastrophenhilfe organisiert wurde. Die Finanzierung dafür kam von der Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der EU-Kommission (Echo).

Das scheint mit der ELN nicht zu funktionieren. Etwas weiter südlich im Chocó wurde vor einem Monat ein Indigenenanführer von ELN-Guerilleros ermordet. Mehr als 1.000 Menschen haben aus Angst ihre Dörfer verlassen. Der provisorische Waffenstillstand zwischen Regierung und ELN, der kürzlich vereinbart wurde, er hält hier nicht.

Alternativen zum Kokaanbau finden

Es besteht die Befürchtung, dass die Zahl der Binnenvertreibungen insgesamt wieder ansteigt. Insgesamt wurden in den Jahrzehnten des Konflikts mehr als sieben Millionen Menschen innerhalb Kolumbiens vertrieben – so viele wie in sonst keinem Land der Welt.

In Riosucio arbeitet jetzt – wie in anderen Gemeinden auch – jemand im Rathaus, der den Titel „Sekretär für Frieden, Versöhnung und Postkonflikt“ trägt. José Ángel Palomeque heißt er, ein kräftiger Typ, er trägt eine kurze Hose und gelbe Plastiksandalen. Er hängt heute dauernd an seinem Handy, hat einiges zu regeln. In ein paar Tagen kommt der Vizepräsident die Gemeinde besuchen, eine seltene Ehre. Palomeque will ihm erklären, was hier los ist.

„Ich glaube nicht, dass mehr Militärpräsenz die Lösung ist“, sagt José Ángel Palomeque. Was er am wichtigsten findet: die Minen zu räumen, damit die Leute zurück in ihre Dörfer können. Landwirtschaftliche Projekte, um Alternativen zum Kokaanbau zu liefern. Bessere Straßen. Oder überhaupt welche. All das ist ja geplant, es dauert nur viel zu lang.

Im besten Fall, sagt er, gibt es bald nur noch einen bewaffneten Akteur in der Region. Mit dem könnten sich die Menschen dann arrangieren. So wie bisher mit den Guerilleros der Farc.

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