Krise der Veranstaltungsbranche: Die im Dunkeln
Nicht nur für Künstler:innen ist der neue Teil-Lockdown schwer: Techniker:innen, Booker:innen, Barpersonal und Security stehen vor dem Nichts.
Ein Bild aus vorvergangener Zeit: Dicht an dicht stehen junge Menschen vor der Bühne. Sie tanzen, pogen, werfen sich in die Menge. Die Beatsteaks brettern auf der Bühne ihre Akkorde runter. Im Graben davor, an den Absperrgittern, hat Franco Böttcher seinen Arbeitsplatz. „Wir passen auf, dass sich keiner verletzt und niemand in den ersten Reihen zusammenklappt“, erzählt Böttcher, der sich an das Open Air in der Berliner Waldbühne im Sommer 2018 erinnert. „Bei solchen Konzerten schirmen wir die Bühne ab, passen am Backstagebereich auf und achten darauf, dass keine Massenpanik entsteht.“
Böttcher, 59, und sein Geschäftspartner Sascha Hoeldtke, 49, haben 1999 den Sicherheitsdienst Shelter Security gegründet, sie arbeiten vor allem bei Punk- und Hardcoreshows. In normalen Zeiten haben sie rund 100 Mitarbeiter:innen, davon die meisten als Honorarkräfte und Minijobber:innen. Ihre Arbeit: an der Tür kontrollieren, die Leute abtasten, schauen, dass die Notausgänge frei bleiben.
Böttcher und Hoeldtke, zwei offene, zugängliche Typen in breitem Format, sitzen im sudanesischen Imbiss neben ihrem Büro in Berlin-Treptow. Viel zu tun haben sie derzeit nicht. „Wir machen die Security in vier Berliner Substitutionspraxen. Da kommt es manchmal zu Konflikten, weil es dort eine sogenannte nicht wartezimmerfähige Klientel gibt. Das ist ein Service, den wir neben den Konzerten immer schon gemacht haben. Jetzt sind wir froh, diese Aufträge noch zu haben“, sagt Hoeldtke. Denn sonst ist in Zeiten des neuerlichen Lockdowns nichts geblieben. Konzerte waren ihr Hauptgeschäft, etwa das Fusion Festival, das Nation of Gondwana, Shows von Künstlern wie Seeed. Alles gecancelt im Jahr 2020. Ihr Umsatz ist um 85 bis 90 Prozent eingebrochen, sie beschäftigen noch eine Handvoll Mitarbeiter:innen.
Und wieder steht alles still
Seit Mitte März liegt die Veranstaltungswirtschaft nun mehr oder weniger brach, mit dem Novemberlockdown steht wieder alles still. Die Clubs sind zu, die Hallen leer, die Bühnen verwaist. Eigentlich erwirtschaftet der gesamte Wirtschaftszweig, zu dem auch Messen, Stadtfeste, Jahrmärkte gehören, 130 Milliarden Euro im Jahr, beschäftigt rund 1,5 Millionen Menschen. Seit das Virus da ist, herrscht Auftragsflaute: bei Künstler:innen, Techniker:innen, Booker:innen. Beim Barpersonal, bei Stagehands, Securityleuten.
Die Coronahilfen des Bundes und der Länder kommen bei vielen von ihnen nicht an, auch Böttcher und Hoeldtke leben teils von den Reserven. „Ich habe eine private Altersvorsorge“, sagt Böttcher, „an das Geld muss ich jetzt immer mal wieder ran.“ Ihre eigenen Gehälter haben sie um ein Drittel gekürzt
Dies ist nur ein Beispiel von vielen. All die Menschen, die eigentlich dafür sorgen, dass alles glatt über die Bühne geht, stehen 2020 im Nichts und vor dem Nichts. Da wäre ein Booker wie Wieland Krämer, der die Bands und Autor:innen auf Reisen schickt, da wäre Musikerin Laura Lee, die eigentlich mit ihrer neuen Band 2020 durchstarten wollte. Da wäre Stephan Thanscheidt, der das Hurricane und Southside Festival veranstaltet, da wäre Sandra Beckmann, die Events organisiert, da wäre Björn von Swieykowski, der den Festsaal Kreuzberg in Berlin betreibt. Vor allem jene, die sonst im Hintergrund an den Reglern schrauben, sollen in dieser Geschichte im Scheinwerferlicht stehen.
„Die Arbeit ist während der Pandemie nicht unbedingt weniger geworden. Die Kommunikation mit Künstlern, Clubs, Promotern, Agenten und Technikern bleibt ja bestehen, auch wenn sie nun vor allem aus dem Verlegen von Veranstaltungen besteht“, sagt Wieland Krämer. Krämer betreibt mit zwei Mitgesellschaftern den Bookingbetrieb Powerline Agency in Berlin-Neukölln. Die Agentur betreut mehr als 200 Acts, sie organisiert Touren für Bands wie The Notwist oder Kings Of Convenience, auch für Lesereisen – etwa für Heinz Strunk – übernimmt die kleine Firma mit ihren acht Mitarbeiter:innen die Planung. Seit Mitte März ist Powerline aber ein einziger Verschiebebahnhof, Krämers Arbeit besteht seither darin, Touren zu verlegen, um sie dann erneut abzusagen und neu zu buchen. „Die Künstler sind natürlich auch frustriert. Leute wie die Acher-Brüder von The Notwist, die müssen einfach auftreten. Denen geht es nicht gut, wenn sie nicht live spielen“, erzählt er bei einem Glas Wein in einer Kneipe in Prenzlauer Berg.
Offiziell ist Krämer gerade arbeitslos, er bezieht Hartz IV. Denn während der Coronakrise fallen (Solo-)Selbstständige, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können, in den meisten Bundesländern direkt in die Grundsicherung. Während die fünf angestellten Mitarbeiter von Powerline in Kurzarbeit sind, bekommen die drei Gesellschafter nur den vereinfachten Zugang zum Arbeitslosengeld II. Absurd? „Es ist das komplett falsche Werkzeug“, meint Krämer. „Allerdings geht es mir auch auf die Nerven, wenn die selbstständigen Veranstalter nun klagen: ‚Ich war ein erfolgreicher Unternehmer, und jetzt werde ich mit Hartz-IV-Empfängern gleichgestellt.‘ Was steht da für ein Menschenbild hinter?“
Nicht nur Krämer findet die bisherige Regelung unsinnig, auch die Grünen wollen sie ändern. Sie fordern einen bundesweiten Unternehmerlohn für Soloselbstständige von 1.200 Euro pro Monat, Ende Oktober haben sie einen entsprechenden Antrag im Bundestag eingereicht. In Baden-Württemberg gibt es den temporären Unternehmerlohn bereits, er orientiert sich an den Umsatzverlusten. Bayern hat angekündigt, dem Vorbild zu folgen und ihn für Künstler:innen einzuführen, in Nordrhein-Westfalen existiert ein Modell in etwas anderer Ausgestaltung. Der Flickenteppich, er wird auch der Kulturbranche ausgerollt. Käme die Unternehmerlohnregelung im Bund, würden Menschen wie Wieland Krämer davon profitieren. Und müssten nicht mehr stapelweise Antragsformulare ins Jobcenter Pankow tragen.
Verbesserte Förderkonditionen?
Ob es einen bundesweiten Unternehmerlohn gibt, darüber müssen sich Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsministerium einig werden. Die Branche schaut vor allem auf Länder wie Norwegen, Niederlande und Belgien: Dort gelingt es, dass vergleichsweise unbürokratisch Hilfsgelder fließen. Von den Überbrückungshilfen des Bundes haben Soloselbstständige meist deshalb nichts, weil sie dabei bislang nur Betriebskosten (etwa: Büromiete und Internetanschluss), nicht aber Lebenshaltungskosten abrechnen konnten. Zudem können die Überbrückungshilfen I und II nur über einen Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer beantragt werden, worauf kleine Unternehmen und Künstler:innen zum Teil verzichten. Bettina Hagedorn (SPD), parlamentarische Staatssekretärin für Finanzen, verspricht: „Wir verbessern die Förderkonditionen. Es gibt einfach einzelne Branchen, die besonders betroffen sind“, das habe man verstanden. Hagedorn verteidigt den Umstand, dass bei den Überbrückungshilfen Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zwischengeschaltet sind – schließlich gehe es um sehr viel Steuergeld und eine große Zahl von Betroffenen.
Zudem soll die Veranstaltungsbranche von den sogenannten Novemberhilfen profitieren. „Mit diesen außerordentlichen Wirtschaftshilfen stellen wir Unterstützung für Unternehmen bereit, deren Geschäft wegen der neuen Maßnahmen der Länder aufgrund der Coronapandemie eingestellt werden muss“, sagt Hagedorn. Rund 10 Milliarden Euro schwer ist das Programm, das Finanzministerium will bei Unternehemn und Selbstständigen 75 Prozent des Umsatzes von November 2019 – beziehungsweise des monatlichen Mittels aus dem Gesamtjahr – erstatten. Auch Soloselbstständige können über einen einfachen Antrag Geld erhalten.
Nach den vielen Monaten des Hinhaltens ist Sandra Beckmann skeptisch. Die Eventplanerin ist Mitorganisatorin von „Alarmstufe Rot“. Mit der Initiative der Veranstaltungswirtschaft ist sie mehrmals auf die Straße gegangen, am 9. September demonstrierte sie mit 15.000 Beschäftigten in Berlin, am 28. Oktober erneut mit 5.000 Beschäftigten. „Wir haben in den letzten 50 Jahren nicht ein einziges Mal um Hilfe gebeten, in keiner noch so großen Wirtschaftskrise, im Gegensatz zu ganz vielen anderen Wirtschaftszweigen in Deutschland. Wenn die Politik verhindern will, dass die ganze Veranstaltungswirtschaft zusammenbricht, muss sie jetzt handeln“, sagt sie am Telefon. Das „jetzt“ betont sie scharf, wiederholt das Wort.
Für einen Teil der Branche, glaubt Beckmann, sei es ohnehin schon zu spät. „Die Abwanderungsquote lag im Oktober bei 40 Prozent, wenn es so weiter geht, sind wir im Dezember bei 65 Prozent.“ Die Daten hat das Bündnis Alarmstufe Rot im Oktober bei einer internen Umfrage der Vereine und Verbände erhoben. „Es gibt jetzt schon einen enormen Fachkräfteverlust. Nach der Pandemie wird uns dieses Know-how fehlen.“ Zum Teil werden die Leute derzeit in Fortbildungen und Umschulungen gesteckt.
Manche Strukturen sind aber schon weggebrochen. Einige Firmen sind schon insolvent, sei es ein kleines Start-up wie „Mise en Place“ in Berlin, das Thekenpersonal vermittelt hat, sei es ein großes Unternehmen wie JMT Mietmöbel, das Inventar für Messen und Events zur Verfügung stellt. Die große Pleitewelle wird aber erst noch kommen: Wegen der Coronapandemie ist die Insolvenzantragspflicht bis Ende des Jahres ausgesetzt (bei Überschuldung, nicht aber bei Zahlungsunfähigkeit), vermutlich wird die Frist noch bis 31. März 2021 verlängert.
Björn von Swieykowski, Geschäftsführer des Festsaals Kreuzberg in Berlin, sagt, es werde kaum anerkannt, dass die Branche mit ihren Einschränkungen enorm zur Virusbekämpfung beitrage. „Indem wir unsere Säle ganz schließen oder die Kapazität erheblich verringern, leisten wir einen Dienst an der Gesellschaft“, sagt er. Der Festsaal beschäftigt normalerweise 25 fest angestellte Mitarbeiter:innen, die jetzt überwiegend in Kurzarbeit sind, sowie 45 Minijobber:innen. Der 47-Jährige zeigt sich zwar zufrieden mit der Unterstützung des Berliner Senats – der Festsaal hat im Rahmen der Soforthilfe IV des Landes Berlin bislang 408.000 Euro Unterstützung erhalten –, aber er bemerkt auch, dass viele durch das Raster fallen. „Kleine Clubs oder Soloselbstständige verschulden sich ohne Ende, sie lassen Steuern stunden. Man muss diese Leute aus den Dauerschuldverhältnissen befreien.“
Für Musikerin Laura Lee sollte 2020 dagegen das große Jahr ihrer neuen Band werden. Bekannt geworden ist die Schlagzeugerin, Gitarristin und Sängerin mit dem Indie-/Punkduo Gurr, für dieses Jahr hatte sie zwanzig Auftritte mit ihrem Quartett Laura Lee & The Jettes geplant. Am Ende blieben ganze drei Gigs, die sie gespielt hat, mit Abstands-und Hygieneregeln und wenig Publikum. Aus einem ohnehin schon prekären Leben wurde ein extrem prekäres: „Wenn man von 300 bis 800 Euro Gage pro Auftritt für eine Newcomerband wie uns ausgeht, kann man sich ausrechnen, wie viele Einnahmen uns in diesem Jahr fehlen“, sagt die 30-Jährige im Zoom-Chat. Um die Verluste zu kompensieren, hat sie gleich zwei neue Jobs angenommen. „Ich gebe jetzt Schlagzeugunterricht, und ich erstelle jeden Morgen ab halb fünf Pressespiegel.“
Finanziell kommt die Musikerin mit den Jobs über die Runden. Ihre neue Band hat zudem eine Förderung der Initiative Musik von 10.000 Euro bekommen; damit kann sie ein Album aufnehmen. Dennoch hat Corona alles verändert. Das Feedback fehlt ihr – das aus den Verstärkerboxen, das seitens des Publikums. „Die Auftritte sind wichtige Ankerpunkte in meinem Schreiben und meinem Schaffen“, erzählt sie, „man merkt bei den Gigs ja auch, ob die Songs funktionieren, was gut an ihnen ist und was noch nicht so gut ist.“ Die coronakonformen Auftritte zwischendurch hätten sie beflügelt, aber „gerade bin ich schon wieder total pessimistisch“. An eine volle Bandprobe mit den drei anderen ist zurzeit nicht zu denken bei einem 10-Quadratmeter-Übungsraum ohne Fenster. Zu groß die Sorge, dass einer den anderen anstecken könnte. „Ich probe nun jeweils einzeln mit den anderen, auf Abstand. Ich verzichte aufs Singen, und wir tragen Maske“, sagt sie. Ausnahmezustand auch im Proberaum.
Laura Lee, Musikerin
Lee sagt, auch Fans könnten etwas tun, um sie finanziell zu unterstützen. „Es hilft zum Beispiel, wenn die Leute bei Bandcamp unsere Songs runterladen, statt sie auf Spotify zu streamen“, erklärt sie. Denn auch das ist in der Coronakrise noch offensichtlicher geworden: Die Beträge, die die Künstler:innen über den Streamingmarktführer einspielen – aktuell zwischen 0,0026 und 0,0043 Euro pro Abruf – sind nur ein kleines Zubrot. Geld wird im digitalen Zeitalter vor allem mit Liveauftritten verdient.
Rückkehr zur vollen Auslastung?
Dass es die bald wieder geben kann, daran arbeitet Stephan Thanscheidt mit seinem Team. Er ist Geschäftsführer des Unternehmens FKP Scorpio in Hamburg. Für jährlich rund 4.000 Veranstaltungen ist die Firma in Nicht-Pandemie-Zeiten verantwortlich. Die Durststrecke wird noch weit über den neuerlichen Lockdown hinausgehen, glaubt der 43-Jährige: „Im ersten Quartal 2021 wird es sicher noch nicht wieder losgehen. Und es bringt uns auch wenig, wenn bei Veranstaltungen nur ein Drittel der Besucherkapazität erlaubt ist oder noch weniger. Bei Events in unserer Größenordnung ist die Rückkehr zur vollen Auslastung das Einzige, was uns helfen kann. Ohne Abstände zwischen den Besuchern“, sagt er im Zoom-Gespräch.
Thanscheidts Hoffnung liegt auf Antigen-Schnelltests, mit denen Besucherinnen und Besucher am Einlass getestet würden. Man würde nur nachweislich Gesunde hineinlassen und einen Safe Spot kreieren. „Generell könnten Schnelltests bei eintägigen Veranstaltungen eine Möglichkeit sein. Bei Festivals und mehrtägigen Events werden sie als alleinige Maßnahme aber nicht ausreichen.“ Der Grund: Frisch Infizierte werden in den ersten 24 bis 36 Stunden nach der Ansteckung nicht positiv getestet. Derzeit geht man bei den Veranstalter:innen davon aus, dass die Getesteten in dieser Zeit noch nicht ansteckend sein können, darüber sind sich Forscher:innen allerdings uneinig. Es gibt aber ein weiteres Problem: Die Quicktests sind nicht zuverlässig genug. Nach Lösungen suchen einige internationale Veranstalter gemeinsam, so Thanscheidt. Sie hätten sich mit Hygienikern und Virologen zusammengeschlossen, um ein einheitliches Konzept zu entwickeln.
Thanscheidt sagt, dass es bei all den drohenden K. o. in der Branche nicht nur um Umsätze, sondern auch um Menschen gehe. Ängste und Depressionen hätten zugenommen. „Das ist ja auch nicht weiter verwunderlich. Die Situation ist wahnsinnig belastend, diese Menschen brauchen eine Perspektive.“ Von den 150 fest angestellten FKP-Mitarbeiter:innen sind die meisten in Kurzarbeit.
Derzeit sei es wichtig, viel miteinander zu sprechen: „Es geht auch darum, aufeinander achtzugeben. Zu fragen, wie es den Leuten geht.“ Wenn es etwas Positives gebe in dieser Zeit, so sei es dies: dass man näher zusammenrücke.
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