Kriegsveteranen-Restaurants in Ukraine: Pizza und Patronenhülsen
In Kyjiw haben Ex-Soldaten die „Pizzeria Veterano“ gegründet. Der Laden brummt, mittlerweile gibt es zehn Filialen in acht ukrainischen Städten.
Gründer und Chef von Veterano Pizza ist Leonid Ostaltsev. Der 36-Jährige hat das Handwerk gelernt. „Ich habe Pizza-Meisterkurse für Erwachsene und Kinder geleitet“, sagt er. Doch als 2014 von Russland gelenkte Separatisten mehr und mehr Orte des Donbas besetzten, hielt es ihn nicht mehr am Pizzaofen. „Als sie eine IL-76 mit unseren Fallschirmjägern abgeschossen haben, konnte ich es nicht mehr ertragen, ich bin zum Einberufungsbüro gegangen und habe gesagt, dass ich bereit sei, in den Krieg zu ziehen“, erinnert er sich. Ein Jahr verbrachte er an der Front im Osten des Landes.
Ein Ort zum Wohlfühlen für alle
Als er 2015 aus der Armee ausschied, sei ihm klar geworden, dass er nicht mehr arbeiten könne wie früher. So wie er kehrten damals Tausende aus dem Krieg zurück, oft traumatisiert und ohne Perspektive. Ostaltsev schloss sich in einem Kyjiwer Stadtteil einer Veteranenvereinigung an.
Er sei für die Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt zuständig gewesen, das Existenzgründungskurse für Frontheimkehrer anbot. Also habe er auch selbst so einen Kurs besucht. „Dazu gehörte es, einen Businessplan aufzustellen.“ In seinem sei es um ein Pizzarestaurant gegangen. „Und danach wurde mir klar, dass ich eine Pizzeria eröffnen wollte.“
Es sollte ein Ort für alle sein, erzählt er. „Veteranen und Soldaten sollten sich dort wohlfühlen und Zivilisten auch.“ Auch unter den Mitarbeitern haben viele eine Militärvergangenheit, aber nicht ausschließlich. Ende 2015 ging es los mit einem ersten Restaurant in einem Kyjiwer Einkaufszentrum. Aus der Pizzeriagründung wurde eine Erfolgsgeschichte. Inzwischen gibt es zehn Filialen in acht Städten.
Auf der Karte stehen 29 verschiedene Pizzen, dazu Salate und Desserts. Die Kunden können auch für Pizza spenden, die dann an Soldaten geliefert wird. „Wir weisen niemanden ab, der um Essen bittet.“ Das gelte auch für Obdachlose.
Frontheimkehrer als gesellschaftliches Problem
Der ukrainischen Regierung ist offenbar bewusst, dass da etwas auf die Gesellschaft zukommt. Zwar wird momentan verstärkt darüber diskutiert, wie mehr Soldaten für die Armee mobilisiert werden können statt darüber, was aus ihnen nach ihrer Demobilisierung werden soll. Aber immerhin wurden kürzlich in Kyjiw Ergebnisse einer Befragung im Auftrag der Veteranenstiftung vorgestellt. Für rund 70 Prozent war die mentale Gesundheit eine der Hauptsorgen, fast ebenso viele nannten finanzielle Sorgen.
Gut die Hälfte der Befragten zeigte Interesse daran, sich selbständig zu machen, viele beklagten aber mangelnde Informationen zu Fördermöglichkeiten und Bürokratie. „Es ist bemerkenswert, dass viele Veteranen Beschäftigungsmöglichkeiten bei den Unternehmungen anderer Veteranen finden“, sagte Ruslana Velytschko-Trifonjuk, stellvertretende Leiterin der Stiftung.
Den militärischen Hintergrund sieht man dem Lokal an. Die Wände sind geschmückt mit gerahmten Fotos von Soldaten, Truppenfahnen und Abzeichen sowie Orden. Unter den Glasplatten der Tische liegen Patronenhülsen.
An der Wand neben dem Tresen hängt eine fast zwei Meter lange Attrappe eines Sturmgewehrs. Daran ist ein Pappschild mit der Aufschrift „Free Azov“ befestigt. Die gleichnamige Einheit hatte 2022 das Stahlwerk im eingekesselten Mariupol verteidigt, bis sie sich nach zwei Monaten ergeben musste. Viele dieser Soldaten sind seitdem in russischer Gefangenschaft.
Begeistert von Pizza
Eine Pizza auf der Speisekarte heißt „für Buslaev“. Sie ist belegt mit frischem Rucola und reichlich rohem Jamon-Schinken, besprenkelt mit grünem Pesto. Sie ist einem gefallenem Kameraden Ostaltsevs gewidmet, der im Winter 2015 bei der Stadt Debaltseve getötet wurde. „Er liebte Jamon“, erzählt Ostaltsev. „Und so erinnern wir an ihn.“
Wenn er über Pizza spricht, merkt man, dass das mehr als ein Geschäft für ihn ist. Er ist begeistert von seinem Handwerk und isst auch selbst sehr gern Pizza. „Ich hatte eine Phase, in der ich sechs Monate lang nur Sardellen-Pizza gegessen habe. Aber dann mochte ich sie irgendwann nicht mehr.“
Er setzt auch ungewöhnliche Kreationen auf die Speisekarte. „Wir haben eine neue Sorte, die heißt „Englisches Frühstück“. Mit Ei, Speck, Würstchen und Cheddar“, sagt er.
Als Polizist zurück an die Front
Im Moment trifft man Ostaltsev allerdings nicht mehr in seiner Pizzeria an. Er ist an der Front. Wieder. Wo genau kann er nicht sagen, im Süden der Ukraine jedenfalls. Von dort meldet er sich. Als die russische Armee im Februar 2022 auf die Kyjiwer Stadtgrenze vorrückte, habe er sich bei einem Bekannten bei der Streifenpolizei gemeldet. Die suchte erfahrene Leute. So ist er nun Polizeibeamter. Die Polizei hat auch Einheiten an der Front.
Sein Team aus neuen Mitgliedern arbeite mit Drohnen. „Am wichtigsten sind im Moment FPV-Drohnen.“ FPV steht für First Person View. Das sind ferngesteuerte Drohnen, bei denen der Pilot die Perspektive der Drohne sehen kann, oft mit einer Videobrille.
Diese Geräte können einen Sprengsatz direkt in ein Fahrzeug oder ein Versteck hinein fliegen. „Wir haben auch Aufklärungsdrohnen.“ Das Kämpfen gegen die russischen Truppen sei nun wieder sein Beruf. „Ich will, dass sie schnellstmöglich aus unserem Land verschwinden.“
Die Pizzeria wird derzeit von einem Stellvertreter geführt. „Er ist meine rechte Hand, mein Fuß, mein Kopf.“ An Gewinn aus dem Geschäft oder Wachstum sei im Moment nicht zu denken. „Wir bezahlen die Gehälter unserer Mitarbeiter und kommen unseren Verpflichtungen gegenüber Banken und Lieferanten nach.“ Es sei nicht einfach, aber es funktioniere.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs