Kriegsspiele in Russland: Putins Jugend im Gleichschritt
Vor Moskau schwören Jugendliche der „Junarmija“, einer Jugendarmee, feierlich ihre Treue. Sie zerlegen Kalaschnikows um die Wette.
Die Aufnahme neuer „Jungarmisten“ findet in der Sporthalle der Schule Nummer 12 statt. Schukowskij ist das Zentrum der russischen Luft- und Raumfahrtforschung, wo auch Testpiloten für MIG-Kampfjets ausgebildet werden. In der Sowjetunion war die Stadt für Ausländer geschlossen, nun ist sie offen, und sogar ausländische Zuschauer können an dem Wettbewerb militärisch-patriotischer Jugendgruppen teilnehmen, der nach der Vereidigung stattfindet. Dutzende patriotische Clubs aus dem Moskauer Umland sind angereist.
Bürgermeister Andrei Woitjuk eröffnet die Veranstaltung, auch er trägt Orden und Medaillen auf der Uniformjacke. Er mahnt die Jugend zu unbedingter Wachsamkeit. Pathetische Andeutungen gehören zum Stil der neuen Zeit. Woitjuk diente im Afghanistankrieg und war für die Rückführung der „Grus 200“ zuständig, die Zinksärge der am Hindukusch Gefallenen. Mindestens 15.000 sollen es in den 80er Jahren gewesen sein.
Endlich ist Sergei an der Reihe. Er marschiert in die Hallenmitte, salutiert und spricht den Schwur: „Ich gelobe feierlich beim Eintritt in die Junarmija im Angesicht meiner Kameraden …“ Durch den Saal hallt ein dumpfes Geräusch. Sergeis Kameradin ist in Ohnmacht gefallen. Der Ausbilder hinter ihm eilt zum Unfallort am linken Flügel. Die Schülerin wird weggetragen.
Sergej ist nicht aufzuhalten: „… Schwache zu verteidigen und im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit alle Hemmnisse zu überwinden“, gelobt er weiter. Wums, Aufregung und schlechte Luft werfen die nächste Soldatin um. Sergei fährt stoisch fort. Er schafft es und erhält das begehrte rote Barrett, das aus ihm einen Jungarmisten macht.
„Molodez!“, lobt ihn der Ausbilder, ein Pfundskerl sei er. Er hätte sich nicht aus der Fassung bringen lassen, so wie es auch an der Front verlangt würde. Die Instrukteure sind pensionierte Militärs, die meisten gingen durch den Fleischwolf der letzten Tschetschenienkriege. Einige stammen aus dem militärischen Geheimdienst GRU. Harte Jungs. Sport und Waffen sind ihre Leidenschaft, Russland natürlich auch.
Kopf hoch, Brust raus!
Dutzende Jugendgruppen kamen nach Schukowskij. Insgesamt sind in den letzten Jahren in Russland mehr als 6.000 Gruppen und militärisch-patriotische Bewegungen aus dem Boden geschossen. Der Höhepunkt wurde nach der Annexion der Krim erreicht. Die Junarmija soll etwas Ordnung in den Wildwuchs der nationalen Begeisterung bringen. Den Ukas, die Verordnung dazu, unterschrieb Präsident Wladimir Putin schon im Herbst 2015. Am 29. Oktober, dem Gründungstag des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol.
Putins Jugend marschiert freiwillig im Gleichschritt. In der Sporthalle vom Schießstand zum Tisch mit dem Schutz gegen chemische Kriegsführung. Sie singen fröhlich. Engagierte Eltern rufen krummen Sprösslingen hinterher: „Kopf hoch, Brust raus! Verdammt noch mal!“ An den Rekord beim Anlegen von Schutzanzug und Gasmaske kommt an diesem Tag niemand heran. Die Jungs kämpfen mit den Schlaufen, Bändern und Laschen. Bei einer Minute und 15 Sekunden liegt der Rekord.
Im Militärfreizeitpark Patriot westlich von Moskau will Russland den Berliner Reichstag in kleinerem Maßstab nachbauen. Jugendgruppen sollen darin üben können, wie man ein Gebäude stürmt, und für den Kampf trainieren. Die Bundesregierung findet die russischen Pläne für die Reichstagsattrappe als Spielwiese für militärbegeisterte „Patrioten“ befremdlich, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, dazu Ende Februar.
Die Rote Armee hatte den Reichstag im Mai 1945 erobert. Sowjetische Soldaten hinterließen in seinen Mauern Namen und Botschaften – die Schrift ist teilweise noch erhalten. (dpa)
Soldatinnen in Tarnanzügen feuern Freunde an. Vergebens, es treibe nur den Schweiß, gesteht Maxim von der Gruppe Woin später. Woin bedeutet Krieger. Hinter der Abkürzung Woin versteckt sich die sperrige Auflösung „Treu der vaterländischen Geschichte des Volkes“.
„Die heimlichen Heldinnen sind die Mädchen“, sagt Maxim neidlos. Noch nie sei beim Zerlegen und Zusammensetzen einer Kalaschnikow jemand schneller gewesen als ein Mädchen aus seiner Gruppe. „Mädchen sind belastbarer, ausdauernder und zäher“, flüstert Sweta. Die 15-jährige Schülerin stammt aus Schukowskij, die Eltern sind Militärs. Sie kenne nur diese Welt, meint sie. Die Eltern hätten nicht viel Geld.
Stahlhelme, Messer, Minen
Sweta verbringt die Freizeit in einer Gruppe, die im ehemaligen Stalingrad und an anderen Schauplätzen des Vaterländischen Krieges – so heißt der Zweite Weltkrieg in Russland – nach sterblichen Überresten Gefallener gräbt. Was sie sonst noch ausbuddeln, liegt vor den jungen Frauen auf einem Tapeziertisch. Gewehre, Stahlhelme, Messer, Minen.
Die Gruppe betreut Alexei Sokolow, Veteran vom Bund sowjetischer Offiziere. Ihm ist besonders an einer norwegischen Sprottendose aus Wehrmachtsbeständen gelegen. Ein Rotarmist hatte mit einem Messer den Deckel aufgeschnitten. Die Lasche zum Abziehen des Verschlusses war noch unversehrt. „So etwas kannte er nicht“, lacht der Instrukteur und erzählt von zivilisatorischer Rückständigkeit und unbezwingbaren Urgewalten, die auf dem Reichstag endeten. Sokolow macht das stolz.
Apropos Reichstag: Wird er mit seinen Anvertrauten im Militärfreizeitpark Patriot nahe Moskau in dem geplanten Nachbau des Reichstags den Häuserkampf trainieren? Die Frage ist ihm unangenehm. Lassen wir das lieber, sagt er freundlich.
Die Wettbewerbsteilnehmer wirken hochmotiviert, ihre Augen leuchten. Was sie hier tun, sei nicht umsonst. Vielmehr eine Vorstufe zu einem „Podwig“ – einer Heldentat, meint jemand aus dem Off.
Bereit zum Kampf
Neben Körperertüchtigung und Wehrkunde gehören Geschichte und Militärtheorie zum Programm. „Wenn die jungen Leute politische Fragen stellen, beantworten wir auch die“, sagt Iwan Warabjow. „Wir möchten aber, dass sie sich eine eigene Meinung bilden“, sagt der Instrukteur. „Wenn sie etwas nicht richtig verstehen, erklären wir ihnen die Hintergründe noch mal.“
Ilja Drobyschew ist besonders engagiert. „Pot ekonomit krow“, steht schwarz auf weiß auf seinem T-Shirt. „Schweiß erspart Blut“ auf Deutsch. „Wenn der Kriegsfall eintritt, stehen wir in der ersten Reihe und wehren den Schlag ab“, sagt er. Sein Gesicht verhärtet sich. Was meint er damit? „Krieg gegen die Ukraine! Ich bin bereit, dort zu kämpfen“, sagt er, während er sich für einen Lauf im Freien in Montur wirft: schusssichere Weste, Stahlhelm und Kalaschnikow.
Im Parcours muss eine Rauchwand überwunden werden, Verletzte sollen abtransportiert werden. „Wie viele unserer Soldaten sind in der Ukraine schon gefallen“, sagt Dobryschew aufgebracht. Vielleicht haben die Ausbilder ihnen doch etwas mehr erzählt.
Bürgermeister Alexei Woitjuk nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir wissen, wo die Feinde sitzen, warum sollen wir sie nicht beim Namen nennen?“ Die USA, der Westen und die Ukraine sind gemeint. Auch Sweta ist überzeugt, Kiew hätte den Donbass überfallen und bedrohe jetzt Russland. Und für den 17-jährigen Agwan steht fest: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, Russland darf dies aber nicht nach außen zeigen.“ Agwan wird nach dem Abitur im Sommer an einer Militärhochschule studieren.
Erst seit Kurzem sind Studienplätze an militärischen Lehrstühlen wieder heiß begehrt. Inzwischen kommen sechs Bewerber auf einen Studienplatz. In Rostow am Don werden bereits im Kindergarten Paraden für kleine Vaterlandsverteidiger veranstaltet. Die Militarisierung der Gesellschaft ist weit fortgeschritten. „Das ist ein Verbrechen an den Rechten der Kinder“, sagt Walentina Melnikowa. Seit 1989 leitet sie das Komitee der Soldatenmütter, das Rekruten gegen die Willkür in der Armee verteidigt. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das zu meinen Lebzeiten noch einmal erleben würde“, meint ein älter Mann vor der Halle in Schukowskij im Vorbeigehen.
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