piwik no script img

Kriegsgefangenenaustausch in der UkraineWiedervereint nach 29 Monaten

2022 geriet Dmytro Seljutin in russische Gefangenschaft. Seinen Hund musste er freilassen, seine Mutter fand das Tier. Jetzt ist auch Dmytro zurück.

Familienbild mit Hund: Dmytro Seljutin, seine Mutter Natalya (rechts) – und Hündin Afina mit Familienangehörigen Foto: Natalya Nikolaewa

Luzk taz | 29 Monate – solange hat die dreifache Mutter Nataliya Nikolaewa aus der westukrainischen Stadt Luzk auf ihren Sohn Dmytro Seljutin gewartet, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Der Militärarzt der 36. Marinebrigade war im April 2022 in Mariupol russischen Truppen in die Hände gefallen.

Von diesem Tag an lebte die Mutter in ständiger Angst, im Sommer 2022 wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Sie überlebte eine Operation und sechs Chemotherapien.

Nataliya ist 50 Jahre alt und Ärztin. Sie hatte stets davon geträumt, dass auch Dmytro diesen Beruf ergreifen würde. Der Vater jedoch wollte, dass der Sohn, wie er selbst zum Militär gehen sollte. Dmytro wollte es beiden Eltern recht machen und wurde Militärarzt.

Krieg, Gefangenschaft und Vergessen

2018 unterschrieb er einen Vertrag und ging zur Armee. Von da an war er im Dauereinsatz an der Front. Nach dem Beginn von Russlands Angriffskrieg am 24. Februar 2022 diente der 27-jährige Seljutin im Dorf Schyrokyne in der Nähe von Mariupol. Die Stellung seiner Brigade war eine der ersten, die von den Invasoren beschossen wurde.

Dmytros Einheit versteckte sich im Asow-Stahlwerk. Der Sohn rief seine Mutter an und gab ihr Ratschläge, wie sie sich während der Angriffe verhalten solle. Er bat sie, seine siebenjährige Schwester und seinen 17-jährigen Bruder ins Ausland zu bringen.

Auf dem Höhepunkt der Kämpfe um Mariupol schickte Dmytro noch kurze Nachrichten an seine Mutter. Er schrieb, dass er am Leben sei und „die Jungs durchhalten“. Die Soldaten hatten zu diesem Zeitpunkt weder Nahrung und Wasser noch Medikamente. Dmytro erlitt drei Gehirnerschütterungen.

In russischer Gefangenschaft seit 2022

Am 12. April 2022 wurde der Marineinfanterist Seljutin von den Russen gefangen genommen. Auch das konnte er seiner Mutter noch mitteilen. Im August 2022 traf ein kurzer Brief von Dmytro ein. Er dankte seiner Mutter für sein Leben und bat seinen Vater um Verzeihung, mit dem er sich vor dem Krieg gestritten hatte.

Dann herrschte langes Schweigen. Nataliya konnte nur herausfinden, dass ihr Sohn bereits vor der brutalen Ermordung ukrainischer Gefangener im Lager Olenivka (bei dem Massenmord durch russische Truppen am 29. Juli 2022 zwischen 53 und 62 ukrainische Kriegsgefangene getötet; Anm. d. Red.) nach Russland gebracht worden war.

Nach ihrer Krebsdiagnose und den Chemotherapien begann sich Nataliya langsam von ihrer schweren Erkrankung zu erholen. Sie nahm ihre Tätigkeit als Freiwillige wieder auf. Das verschaffte ihr ein wenig Ablenkung. Sie sammelte nicht nur Geld für die Armee, sondern vernetzte sich auch mit anderen Müttern, die ebenfalls auf die Rückkehr ihrer Söhne aus der Gefangenschaft warteten.

Psychologie-Studium als Investition in die Zukunft

„Mir wurde klar, dass Dmytro in der Gefangenschaft viel mehr durchmachen musste als ich während meiner Krankheit“, sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt entschied sich Nataliya auch für eine weitere Ausbildung: Sie studierte Psychologie an der Luzker Universität.

Wer wüsste besser als sie, dass ihr Sohn und viele andere Militärangehörige nach allem, was sie erlitten haben, nicht ohne professionelle psychologische Unterstützung auskommen können. Noch während Dmytro in Gefangenschaft war, organisierte die Frau zahlreiche Aktionen, Versammlungen und Autokorsos zur Unterstützung der Kriegsgefangenen.

Ein Pitbull als Gefährtin

Und dann passierte ihr auch noch eine schier unglaubliche Geschichte – nicht mit ihrem Sohn, sondern mit dessen Hündin. Während seines Dienstes 2021 hatte sich Dmytro einen alten Traum erfüllt und einen amerikanischen Pitbull-Welpen gekauft. Er nannte ihn Afina.

Die Hündin wurde seine treue Freundin. Als Dmytro gefangen genommen wurde, befahlen die Russen, die Hündin freizulassen, andernfalls werde das Tier erschossen. Schweren Herzens folgte der Militärarzt der Aufforderung. „Wenn möglich, findet Afina“, übermittelte eine Soldatin Nataliya die Bitte ihres Sohnes. Sie war bei einem der vorherigen Gefangenenaustausche freigelassen worden.

Nataliya machte sich auf die Suche. Die Frau sah sich Hunderte Videos in sozialen Netzwerken an, las Chats – von Ukrainern und Besatzern. Einmal schrieben sie ihr, dass sie in der Nähe der Fabrik, in der Dmytro gefangen genommen worden war, eine Hündin gesehen hätten. Unbekannte schickten sogar Fotos und Videos. Nataliya war davon überzeugt, dass es sich um Afina handeln müsse. Die Frau hatte schließlich viele Fotos des Vierbeiners zu Hause.

Tier über fünf Ländergrenzen hinweg nach Hause geholt

Die Heimkehr der Hündin im Sommer 2023 wurde zu einem wahren Epos. Bei der Evakuierung halfen Freiwillige, die Afina über Russland, Litauen und Lettland nach Warschau und schließlich nach Luzk brachten. Die Hündin akzeptierte ihre neue Besitzerin sofort. „In der Wohnung fand sie einen Hausschuh von Dmytro, ließ diesen nicht mehr los, legte ihren Kopf darauf und blieb so liegen“, erinnert sich die Frau. Die Direktorin des Luzker Zoos, Ljudmila Denisenko, die bei der Rückkehr der Hündes geholfen hatte, habe zu Nataliya gesagt: „Du hast Afina gerettet und sie wird deinen Sohn retten.“

Zweieinhalb Jahre lang suchte Nataliya nach ihrem Sohn. Keine Stelle, an die sie sich nicht gewandt hätte. „Ich habe eine Reihe von Videobotschaften an verschiedene Behörden geschickt und bin zu Protesten gegangen. Sie antworteten mir: „Warte und glaube.“

Jedes Mal, wenn die Frau hoffnungsvoll Nachrichten von einem Gefangenenaustausch las und sich die ersten Videos freigelassener ukrainischer Soldaten ansah, krampfte sich ihr Herz vor Schmerz zusammen: ihr Sohn war nicht unter den Freigelassenen.

Gefangenenaustausch im September bringt Sohn zurück

Doch am Morgen des 4. September 2024 änderte sich alles. Da fand ein weiterer Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland statt. In diesen Monaten tauscht Kyjiw vor allem Russen aus, die bei der ukrainischen Offensive in der russischen Region Kursk gefangen genommen worden waren.

Nataliya wurde von einer unbekannten Nummer angerufen. „Hallo Mama, ich komme nach Hause“, sagte eine Stimme auf Ukrainisch. Dmytro hatte im Alltag stets Russisch gesprochen, sodass Nataliya ihn nicht sofort erkannte. In der Gefangenschaft hatte er komplett zum Ukrainischen gewechselt und versprochen, zu Hause kein Wort auf Russisch mehr zu sagen.

„Während der Gefangenschaft hatte mein Sohn stark abgenommen und musste wieder aufgepäppelt werden. Aber er hat das alles ertragen. Er hat seine ärztlichen Verpflichtungen erfüllt und Kinder aus schwierigen psychischen Krisen heraus geholt“, sagt Nataliya über das erste Treffen mit ihrem Sohn

Über seine Gefangenschaft hat Dmytro bisher nur wenig gesprochen. Nach der Rehabilitation möchte er Soldaten helfen, die von der Front zurückkehren.

Auch nach der Rückkehr ihres Sohnes hat Nataliya nicht aufgehört, sich ehrenamtlich zu engagieren. Sie unterstützt die Armee und Familien, die auf ihre Verwandten aus der Gefangenschaft warten. „Verliere nicht die Hoffnung, gib nicht auf, bete, glaube, kämpfe“, sagt sie. „Alles wird gut. Alle werden wiederkommen.“

Aus dem Russischen Barbara Oertel

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Eine schöne Geschichte in schweren Zeiten die Hoffnung macht.