Kriegsende vor 75 Jahren: Hurra, wir haben gewonnen!
In Deutschland gilt der 8. Mai heute als „Tag der Befreiung“. Doch der Begriff birgt Tücken. Dabei geht es um mehr als nur um Wortklauberei.
E s ist jetzt 35 Jahre her, da sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Rede zwei sehr einfache Sätze im Plenum des Deutschen Bundestags. Er sagte „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Dieses Statement ist heute in der Bundesrepublik weitgehender Konsens. Ja, es gibt die Rechtspopulisten, die die Ehre der deutschen Nation befleckt sehen, weil eine militärische Niederlage zur Notwendigkeit erklärt wird. Aber sie sind eindeutig in der Minderheit, anders als damals im Jahr 1985, als Weizsäckers Sätze auf den wütenden Protest der sogenannten Stahlhelm-Fraktion in der CDU um Alfred Dregger stießen und Franz Josef Strauß forderte, die Vergangenheit „in der Versenkung oder Versunkenheit“ verschwinden zu lassen.
Der Streit um die Deutungshoheit über den 8. Mai 1945 war noch lange nicht abgeschlossen und es bedurfte Jahre der Überzeugungsarbeit, um endlich klare Verhältnisse zu schaffen.
Linke und Liberale haben auf die einfache Festellung von Weizsäckers mit einem Aufatmen reagieriert, auch im Ausland stieß seine Rede auf breite Zustimmung. Endlich hatte ein bundesdeutsches Staatsoberhaupt das Offensichtliche ausgesprochen. Nur dank der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg konnte die NS-Herrschaft beendet und – zunächst nur im Westen – eine Demokratie aufgebaut werden.
Viele Deutsche waren zutiefst unglücklich
Das Anerkennen dieser Kausalität hatte die westdeutsche Elite über Jahrzehnte vehement abgelehnt. Zu verwurzelt waren all die früheren Leutnants, Offiziere und Sturmbannführer selbst in den Zweiten Weltkrieg und die Gewaltherrschaft der Nazis.
Dennoch hat der Begriff „Befreiung“ seine Tücken. Da sind zunächst die offensichtlichen Widersprüche. Ein großer Teil der Deutschen empfand diese Befreiung 1945 keineswegs als eine solche, sondern war über die Niederlage des Regimes zutiefst unglücklich. Gewiss waren viele Menschen froh darüber, dass die Bombardierungen nun ein Ende hatten. Selbstverständlich begrüßten Soldaten (und ihre Mütter), dass sie der permanenten Lebensgefahr entronnen waren.
Aber nicht nur Nazi-Bonzen flüchteten sich in diesem Frühlingsmonat aus Verzweiflung über das Ende des NS-Reichs in den Suizid, auch brave „Volksgenossen“ folgten ihnen. Schon gar nicht befreit fühlen konnte sich das Heer der deutschen Kriegsgefangenen, die bisweilen für Jahre hinter Stacheldraht wanderten, ganz zu schweigen von den NS-Tätern, die nun ihre Strafverfolgung fürchten mussten. Und auch wenn die am Ende viel milder ausfiel als zunächst vermutet, so konnten die Täter das 1945 nicht wissen.
Befreit worden waren die Gegner der Nazis, soweit sie noch am Leben waren, Sozialdemokraten und Kommunisten, manche Konservative und Christen, die wenigen oppositionellen Schriftsteller, die im Land geblieben waren. Und natürlich die Juden, soweit sie den Frühling 1945 erleben durften, Sinti und Roma, verfolgte Homosexuelle, andere unrechtmäßig Gefangene und die aus halb Europa verschleppten Zwangsarbeiter sowie Hunderttausende Kriegsgefangene.
Die Sowjetunion expandierte
Befreit worden war mit der deutschen Niederlage auch ein großer Teil des europäischen Kontinents. Paris war endlich wieder Paris, von Oslo bis Rom konnten die Menschen wieder frei atmen. Doch mündete das Ende der Okkupation durch die Deutschen keineswegs überall in Demokratie – sondern in eine neue Besatzung.
Stalins Sowjetunion konnte infolge des Kriegsendes expandieren. Manche unabhängigen Staaten wie Litauen, Lettland und Estland verschwanden ganz von der Landkarte, anderen Völkern, etwa den Polen, wurde ein Regime aufgezwungen und das halbe Land gestohlen, die Bewohner vertrieben.
Dies in Rechnung zu stellen bedeutet nicht, Nazi-Herrschaft und Sowjet-Sozialismus in einen Topf zu werfen und der Totalitarismustheorie neues Leben einhauchen zu wollen. Aber es ist eine Tatsache, dass von einer Selbstbestimmung der Völker im Osten Europas nach 1945 keine Rede sein kann.
In diesen Ländern fallen die Befreiungsfeierlichkeiten zum 8. Mai traditionell eher dürftig aus. Es gibt auch nicht allzu viel zu feiern.
Nicht nur Kaugummi und Schokolade
Nach Deutschland waren die Truppen der Alliierten nicht als Befreier gekommen. Diese Deutschen galten als Feinde. Nicht umsonst befahl die US-Army ihren Soldaten zunächst ein striktes Fraternisierungsverbot gegnüber Zivilisten. Mehrere Millionen Menschen wurden, oft unter katastrophalen Umständen, zum Verlassen ihrer Heimatorte im Osten Deutschlands gezwungen.
Nicht überall war die blutige Niederringung des NS-Regimes mit der Ausgabe von Kaugummi und Schokolade verbunden, bisweilen kam es – auch im Westen – zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung bis hin zu Vergewaltigungen.
Diese Schattenseiten anzusprechen bedeutet nicht, die historische Leistung der Alliierten bei der Befreiung Europas in Frage zu stellen. Es soll lediglich klarstellen, dass es objektive Gründe dafür gab, warum viele Deutsche ihrer Befreiung nur wenig abgewinnen konnten und mehr als nur eine ideologische Verblendung vorlag.
Dass all diese furchtbaren Umstände, unter denen viele Menschen 1945 zu leiden hatten, letztlich Folge der NS-Politik mit ihren Eroberungskriegen und Massenmorden war, dämmerte den meisten Deutschen erst später – und manchen Zeitgenossen nie.
Auf die Seite der Sieger
Nur so betrachtet ist der Begriff Befreiung für das, was in Deutschland 1945 geschah, goldrichtig. Allerdings lauert hinter diesem großen Wort eine ganz andere Tücke – und die betrifft nicht die damals lebenden Zeitgenossen, sondern uns.
Denn der Begriff impliziert ganz selbstverständlich, dass wir alle 1945 sinnbildlich befreit worden sind. Das bedeutet folglich, dass sich die Deutschen damit unauffällig auf die Seite der Sieger geschlagen haben. Hurra, wir haben gewonnen! Das festzustellen ist mehr als nur eine Wortklauberei.
Denn es bedeutet zu Ende gedacht, dass auch niemand der Nachgeborenen mehr Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten übernehmen muss. Schließlich haben Befreite nichts gemein mit denjenigen, die sie zuvor unterdrückt haben, den Nazis also.
Und so ward ein einig Volk von Unschuldigen geboren, Arm in Arm mit den siegreichen Alliierten, an deren Erfolg sich die Deutschen laben können, obwohl sie diese Amerikaner, Briten, Sowjetbürger und Angehörige vieler weiterer Nationen noch bis zum 7. Mai 1945 bevorzugt in einem Angriffskrieg umgebracht haben.
Verpflichtung, zu erinnern
Nun ist es nicht so, dass im Deutschland des Jahres 2020 niemand mehr Verantwortung und Scham für die NS-Verbrechen zeigen würde. Gedenkstätten werden gepflegt, Sonderausstellungen eröffnet und die letzten lebenden Opfer der Konzentrationslager konnten nur wegen des Coronavirus nicht zu den Feierlichkeiten ihrer eigenen Befreiung vor 75 Jahren nach Deutschland reisen.
Aber zweifellos vorhanden ist eine gewisse Tendenz, dass jüngere Menschen nicht mehr wissen, dass aus dem Geschehenen zwischen 1933 und 1945 eine Verpflichtung dafür entsteht, sich der Verbrechen weiter zu erinnern – und jeglicher politischer Tendenz, diese zu verharmlosen, zu widerstehen.
Vielen Jüngeren sind die Jahre der NS-Herrschaft unendlich weit weg, irgendwo kurz nach dem Mittelalter, jedenfalls ohne Bedeutung für das eigene Leben. Es wäre töricht, dies einzig darauf zurückzuführen, dass diese Generation mit dem Begriff der Befreiung für die Niederlage der deutschen Wehrmacht aufgewachsen ist. Aber der Begriff birgt doch die Gefahr, dass sich die Deutschen aus der Verantwortung für die von den Nazis begangenen Verbrechen herausstehlen könnten.
Es ist wichtig, deutlich zu machen: Der 8. Mai 1945 ist der Tag der Befreiung. Doch der Masse der Deutschen galt diese Befreiung nicht. Dafür gab es gute Gründe. Die Deutschen waren keine Sieger. Aber sie haben mit dem 8. Mai 1945 die Grundlagen für die spätere Demokratie gewonnen.
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