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Krieg in der UkraineAns Eingemachte

Wohl dem, der Vorräte hat, denn der Ausnahmezustand gilt weiter. Die Angst vor Plünderungen wächst. Aktuelle Eindrücke aus der Ukraine.

Das Ziel: bloß weg. Menschen mit Gepäck auf dem Weg zum Kiewer Bahnhof am Sonntag Foto: Carlos Barria/reuters

Kiew taz | Sonntagmorgen. Die Nacht in Kiew war ruhig. So ruhig, dass ich sogar verschlafen habe. Seit Samstagabend gilt der Ausnahmezustand, und das bis Montag morgen. Ich höre mir die Rede von Präsident Wolodimir Selenski an. Er sagt, dass er bereit sei, sich mit den Russen zu Friedensgesprächen zu treffen. Aber nicht in einem Land, von dem aus Raketen auf die Ukraine abgeschossen würden. Er macht einen sehr authentischen Eindruck.

Aus der zweitgrößten Stadt Charkiw gibt es beunruhigende Nachrichten. Der Journalist Stanislaw Kibalnik berichtet mir: „Gegen 7 Uhr morgens sind rund 400 russische Saboteure in Tiger-Jeeps und Lastwagen aus Aleksejewka und Saltowka in Charkiw eingedrungen. Einige sind ins Zentrum vorgestoßen, andere in die Schlafstädte. Doch sie wurden neutralisiert und einige gefangenen genommen. Das waren alles junge Kerle. Auch Leichen sieht man, aber nur wenige.“

Ich erreiche auch Juri Larin, ebenfalls Journalist in Charkiw. „Am Sonntagmorgen sind mehrere Sabotagegruppen mit gepanzerten Fahrzeugen in Charkiw eingedrungen. Den ganzen Tag über kommt es zu Straßenkämpfen zwischen den Saboteuren und den Verteidigern von Charkiw. Kurz nach ihrem Eindringen in die Stadt wurden einige der Saboteure liquidiert, einige haben sich ergeben, andere Zivilkleidung angezogen und versucht zu fliehen. Sie haben eine Schule in der Schewtschenko-Straße eingenommen. Nun versuchen unsere, sie zu vertreiben.

Die Besatzer schießen auch auf Zivilisten. Unweit des onkologischen Krankenhauses hat es eingeschlagen, Fenster sind zu Bruch gegangen. In der Buchma-Straße (Nordsaltiwka) wurde ein neunstöckiges Wohnhaus durch den Raketenbeschuss erheblich beschädigt. Es gibt viele verlassene oder ausgebrannte russische Fahrzeuge auf den Straßen. Viele suchen Schutz in Luftschutzräumen“, so Larin.

Fliehen oder nicht

„Russland wird weiter gehen, sobald die Stimme der Ukraine zum Schweigen gebracht wird. Sobald Putin die Ukraine überrannt hat, wird er auch hier Raketen stationieren. So wie in Belarus. Und dann müsst ihr noch viel mehr bezahlen für eure Ergebenheit.“

Ich fange an, meine Telefonnummern in mein Notizbuch einzutragen. Dann habe ich sie, wenn der Akku tot ist. Ich glaube, am Montag fliehe ich. Oder nicht. Und wenn doch, dann vielleicht nur in ein Dorf in der Nähe. Von Minute zu Minute denke ich anders. Aber eines weiß ich: Ich habe einige Dinge falsch eingeschätzt.

Meine Mitbewohnerin ist eine 75-jährige Frau. Sie, Nadja, hortet gerne Lebensmittel. An den Sonntagen ging sie immer in mehrere Kirchen, um sich humanitäre Hilfspakete für Binnenflüchtlinge – sie ist aus der Gegend von Donezk geflohen – zu holen. Dann kam sie mit Tragetaschen voller Nudeln, Mehl und Sonnenblumenöl zurück.

„Unsere Wohnung ist keine Lagerhalle“, habe ich geschimpft. „Da ist doch ungemütlich, zwischen Nudeltüten und Mehlpackungen zu leben.“ Wenn ich besonders wütend war, habe ich ihr gesagt: „Nadja, Sie leben ja so, als käme morgen Krieg.“ Dann hat sie immer betreten geschwiegen, zog am nächsten Sonntag aber doch wieder los.

Äpfel, Birnen und Gemüse

Jeden Sommer hat sie Äpfel, Birnen und Gemüse für den Winter eingeweckt. Und ich habe mich immer gefragt, wer um Gottes willen das alles jemals essen soll. Jetzt, wo sich die Regale in den Lebensmittelgeschäften leeren, bin ich froh, dass ich mit so jemandem zusammenlebe.

Nadja ist der einzige Mensch, den ich in den vergangenen Tagen gesehen habe, der noch weinen kann. Sie kann bei jeder Explosion sagen, welche Geschosse das sind und wie weit sie noch weg sind. „In meiner Heimatstadt Jenakiewo bei Donezk bin ich sehr oft beschossen worden.“ Sie ist herzkrank und hatte schon drei Infarkte. Alle wissen es, aber keiner sagt es: Wenn sie jetzt ein Problem mit dem Herzen bekäme, würde wird ihr niemand helfen.

Die Angst vor Plünderern geht um. Jetzt, wo sich jeder ganz offiziell kostenlos ein Gewehr holen kann, ist die Furcht groß, dass sich diese Waffen auch mal auf einfache Bürgerinnen richten könnten. Aus den Gefängnissen sind Schwerverbrecher entlassen worden. Vielleicht sollte ich mich weniger vor der Wohnung zeigen. Ist vielleicht besser, wenn Nadja, die unscheinbare Rentnerin, zum Einkaufen geht.

Mein Nachbar Alik ruft an. Er ist gerade in einem Dorf in der Nähe. „Guck doch mal nach, ob in meiner Wohnung noch alles in Ordnung ist.“ Heldenhaft verlasse ich das Haus, was ja jetzt verboten ist, schalte auf Whatsapp meine Kamera ein. Dann gehe ich die 50 Meter zu seinem Haus und filme für ihn Fenster und Wohnungstür. Er ist froh, dass noch alles so aussieht, wie er es verlassen hat. Ich bin nicht der Einzige, der sich aus dem Haus wagt. Am Nachbarhaus stehen zwei Raucher vor der Tür, sie gehen sogar ein paar Schritte auf und ab.

20 Kilometer zu Fuß

Meine Bekannte Olga Garadnitschewa ruft an. Sie ist jetzt an der ukrainisch-polnischen Grenze. Auf der polnischen Seite. Die letzten 20 Kilometer sei sie zu Fuß gegangen und schneller gewesen als die Autos. An der Grenze sei ein riesiger Andrang. Sie habe Leute getroffen, die schon drei Tage auf einen Übertritt warteten.

Werden Russen und Ukrainer doch noch miteinander reden? Am Abend kommen neue Nachrichten. Eine ukrainische Delegation werde sich auf den Weg nach Belarus zu Verhandlungen machen, allerdings ohne Selenski. Die Zeitung „Dserkalo Tyschnja“ berichtet, der prorussische Politiker und Putin-Freund Wiktor Medwdetschuk habe sein Haus verlassen. Seltsam, er steht doch unter Hausarrest. Das hat etwas zu bedeuten. Aber was?

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