Krieg im Nahen Osten: Logik der Solidarität
Besonders in Zeiten des Krieges gilt es, der Polarisierung entgegenzuwirken. Jüdische und palästinensische Aktivist:innen in Israel sind mutig.
S eit Anfang des Jahres gingen in Israel jeden Samstagabend Hunderttausende meist linksliberale, überwiegend jüdische Israelis auf die Straße, um gegen die antidemokratischen, autoritären Pläne der rechtsreligiösen, teils rechtsradikalen Regierung zu protestieren, die die unabhängige Gerichtsbarkeit im Staat schwächt. Die jüdischisraelische Gesellschaft schien gespalten wie noch nie. Hier die Befürworter:innen, dort die Gegner:innen von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Im Zuge der politisch turbulenten Wochen des vergangenen Sommers einschließlich der Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel in einer historischen Knessetsitzung wurde dann zudem Kritik an der Radikalisierung des Siedlungsbaus sowie der Siedlergewalt im besetzten Westjordanland laut.
Viele Demonstrierende, darunter nicht nur die kleine Gruppe der Antibesatzungsaktivist:innen, schienen zunehmend zu erkennen, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den autoritären Plänen der Regierung sowie der Eskalation der Besatzungs- und Annexionspolitik besteht und dass diese Politik auch die Sicherheit der Bevölkerung innerhalb Israels in seinen anerkannten Grenzen von 1948 gefährden könnte.
Mit dem 7. Oktober 2023 kam die Protestbewegung schlagartig zum Erliegen. Seit gut einem Monat befindet sich das Land infolge des brutalen Terrorangriffs der Hamas im Schock- und Kriegszustand. Die jüdischisraelische Bevölkerung schwankt, auch medial, zwischen Trauer, Racheforderungen und endloser Kriegsberichterstattung. Eine überwältigende Mehrheit – auch unter denen, die ein Dreivierteljahr lang gegen die Regierung auf die Straße gingen und für Demokratie kämpften – steht hinter der militärischen Reaktion Israels.
ist als Sohn israelischer Eltern in Bonn aufgewachsen. Er ist Historiker, hat in Berlin promoviert und leitet seit Frühjahr 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Viele Linksliberale unter den Opfern
Auch um den Preis der hohen zivilen Opferzahlen im Gazastreifen. Sogar ein Kriegskabinett unter Beteiligung von Oppositionspolitikern wurde ins Leben gerufen, um der verunsicherten Bevölkerung Einheit zu demonstrieren. Diese Maßnahmen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Gräben, die sich in den vergangenen Monaten auftaten, nicht durch die vorgebliche Einigkeit in Kriegszeiten zuschütten lassen.
Dafür sind sie zu tief und das Misstrauen gegenüber Ministerpräsident Netanjahu und seiner Regierung zu groß. Dies lässt sich vor allem an zwei Themen festmachen: an der Suche nach den Ursachen für das kolossale Versagen der israelischen Sicherheitsorgane am 7. Oktober sowie am Umgang mit den rund 240 Geiseln in den Händen der Hamas, darunter auch palästinensische Staatsbürger:innen Israels und Arbeitskräfte aus Thailand.
Das Massaker traf vor allem israelische Zivilist:innen, darunter sehr viele Bewohner:innen der Kibbuzim in Grenznähe zum Gazastreifen. Zweifellos waren unter den Opfern und sind unter den Entführten zahlreiche Unterstützer:innen der Protestbewegung. Auch zahlreiche israelische Menschenrechts- und Antibesatzungsorganisationen haben am 7. Oktober 2023 Mitglieder und Aktivist:innen verloren.
Daher war dieser „schwarze Schabbat“, wie der Tag in Israel genannt wird, auch für jüdischisraelische Linksliberale eine Zäsur von noch unabsehbarem Ausmaß. Auch die Reaktionen auf die Attacke sowie den immer brutaler werdenden Krieg im Gazastreifen machen die Unterschiede zwischen dem linksliberalen Anti-Netanjahu-Lager und dem radikaleren Antibesatzungsblock, die sich bereits im Zuge der Protestbewegung zeigten, noch deutlicher.
Wider die Gewalt und Feindschaft
Akteur:innen des jüdischisraelischen Mitte-links Lagers, etwa von der Arbeiterpartei Awoda oder der linkszionistischen Partei Meretz, versuchen sich in einem Spagat zwischen der Betonung der nationalen Einheit in Zeiten des Krieges gegen die Hamas im Gazastreifen (und zunehmend die Hisbollah im Libanon) und gleichzeitiger Kritik am Vorgehen der Einheitsregierung. Dabei geht es auch um die mangelhafte staatliche Unterstützung für rund eine Viertelmillion Binnengeflüchtete.
Die Kritik richtet sich gleichzeitig gegen die zu zaghaften Bemühungen der Regierung für eine Freilassung der über 240 im Gazastreifen festgehaltenen Entführten. Das Mitte-links-Lager verharrt damit jedoch in der militaristischen Logik von Gewalt und Gegengewalt und findet keine Antwort auf die immer lauter werdenden Proteste von Angehörigen der Entführten, die die Unvereinbarkeit zwischen dem Vorrücken der Bodentruppen und der Befreiung möglichst aller noch verbliebenen Geiseln betonen.
Im Gegensatz dazu formieren sich auch in diesen bitteren Wochen zahlreiche Initiativen, die sich gegen die der Region scheinbar inhärenten Logik der Gewalt und der Feindschaft zwischen Juden:Jüdinnen und Palästinenser:innen stemmen.
So machen etwa die Knessetabgeordneten Ayman Odeh und Aida Touma-Sliman von der sozialistischen Hadash-Partei oder auch Aktivist:innen wie Alon-Lee Green oder Sally Abed von der jüdisch-arabischen Graswurzelorganisation Standing Together (Omdim Beyachad) eindrucksvoll vor, wie das Entsetzen und die Trauer angesichts der Kriegsverbrechen der Hamas in eine universalistische Botschaft der Solidarität mit allen Opfern dieses neuerlichen Blutvergießens in Israel und Palästina eingebettet werden kann.
Sie schaffen damit einen Gegenentwurf zu den in Israel dominanten Racheforderungen, die sich im öffentlichen Diskurs mehr und mehr breitmachen, sei es durch die Missachtung der zivilen Opfer in Gaza oder durch erschreckende Repression gegen palästinensische Staatsbürger:innen Israels. Erst diese Woche kam es zur Verhaftung führender palästinensischer Politiker*innen in Israel, weil sie eine stille Mahnwache in Nazareth gegen den Krieg organisiert hatten.
Repression gegen palästinensische Israelis
Diese Akteur:innen aus dem sogenannten Friedenslager artikulieren sowohl als jüdischisraelische Linke als auch als palästinensische linke Stimmen in diesen Wochen eine Haltung, die in Zeiten des Krieges und der Polarisierung selten geworden ist: eine uneingeschränkte Humanität und gegenseitige Solidarität.
Dazu gehört es einerseits, dem Leid der jüdischisraelischen Bevölkerung infolge des Hamas-Massakers Raum zu geben und praktische Solidarität mit den Betroffenen auszuüben (inklusive der unmissverständlichen Forderung nach Gefangenenaustausch), und andererseits, unentwegt die unerträglichen Folgen der israelischen Militärangriffe auf den Gazastreifen, die Eskalation der Gewalt der Siedler:innen im Westjordanland sowie die immer stärker werdende Repression gegen palästinensische Staatsbürger:innen Israels zu verurteilen.
Das erfordert in einem Klima, das infolge der Attacken noch intoleranter gegenüber allem Zweideutigen, Ambivalenten, nicht sofort dem Freund-Feind-Schema Zuzuordnenden geworden ist, großen Mut und Entschlossenheit. Erst vor wenigen Tagen entschied das Oberste Gericht – bekanntlich der größte Gegner der Netanjahu-Regierung –, einen Eilantrag palästinensischer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Israel gegen ein umfassendes Verbot von Antikriegsdemonstrationen abzulehnen.
Die jüdisch-palästinensische Solidarität ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie im Unterschied zu den derzeit dominanten politischen und militärischen Stimmen in Israel auf den Moment nach dem Krieg blickt. Die Aktivist:innen stellen die Fragen, mit denen sich die meisten Politiker:innen und Analyst:innen in den Wochen seit dem 7. Oktober zu selten beschäftigen: Was soll passieren, nachdem dieser Krieg endet?
Zusammenleben auf Augenhöhe
Was könnten Auswege sein aus dem Kreislauf der Gewalt, Gegengewalt und des endlosen Blutvergießens? Ist wirklich mehr Militarismus, mehr Bewaffnung und mehr Zerstörung der Weg, um einen weiteren Angriff der Hamas zu unterbinden? Oder ist nicht doch eine Perspektive für palästinensische und jüdische Selbstbestimmung in Form eines palästinensischen Staates an der Seite Israels sowie die Stärkung des Verhältnisses zwischen jüdischen Israelis und palästinensischen Staatsbürger:innen innerhalb Israels die Grundlage für ein würdevolles Leben für alle zwischen Mittelmeer und Jordan?
Eine kürzlich veröffentlichte Erklärung von jüdischen und palästinensischen progressiven Initiativen innerhalb Israels brachte die Notwendigkeit der Stunde auf den Punkt: „Die Besatzung, die Belagerung, die Kriege, der Terrorismus, die Unterdrückung, der Rassismus und die Gewalt, die Verletzung der Demokratie und der Menschenrechte – all dies hat die beiden Völker, die zwischen dem Meer und dem Jordan leben, in eine unvorstellbare Katastrophe geführt, die kein Maß kennt. Gerade in diesen schrecklichen Tagen wird die einfache Wahrheit deutlicher denn je: Freiheit, Sicherheit und Leben aller Menschen in diesem Land hängen voneinander ab.
Im Gedenken an die Ermordeten und um der Lebenden willen müssen wir gemeinsam handeln – Juden und Araber – für die Freilassung der Entführten und Gefangenen, für das Ende des Kriegs, für das Ende der Besatzung und des Konflikts, für den Frieden.“
Für alle, die angesichts der mitunter schwer auszuhaltenden Polarisierung der deutschsprachigen, aber auch der internationalen linken Debatten zur aktuellen Situation in Israel und Palästina verzweifeln, sind solche Positionierungen jüdischer und palästinensischer Akteur:innen Israels, die die Alternativlosigkeit des Zusammenlebens auf Augenhöhe und mit gleichen Rechten erkennen und sich damit der ewigen Logik des Militarismus und Nihilismus widersetzen, vielleicht der einzige Hoffnungsschimmer dieser Zeit.
Mögen diese Positionen bei all jenen auf offene Ohren stoßen, die bis vor einem Monat dachten, dass sie für den Protest gegen die autoritäre Agenda der Regierung nicht relevant seien.
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