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Kretschmanns ZwischenbilanzLuxusprobleme in Südwest

Ein Jahr vor der Wahl muss der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann neues Personal finden. In Umfragen liegt er weiter einsam vorn.

Winfried Kretschmann: kein Freund von personellen Veränderungen im laufenden Geschäft Foto: dpa

STUTTGART taz | Sollte es als erstes Wahlkampfmanöver geplant gewesen sein, dann war es kein gelungenes. In einem Interview war Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Bedeutung der Rechtschreibung für den Unterricht gefragt worden. Die in der Schule zu pauken werde weniger wichtig, hatte Kretschmann geantwortet und auf den Fortschritt von Korrekturprogrammen und Künstlicher Intelligenz verwiesen.

Die Reaktion von Lehrern und Eltern darauf war empört. „Das hat mich sicher tausende Wählerstimmen gekostet“, gibt Kretschmann einige Tage später recht gelassen zu. Aber er kann sich das ja leisten, soll das wohl heißen.

Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr bis sich Deutschlands beliebtester Ministerpräsident am 14. März 2021 der Wiederwahl stellt, der Wahltermin wurde gerade bekannt gegeben. Aber auch ohne die Empörung zu Kretschmanns Rechtsschreibung-Einlassung hätte dieses vorerst letzte Jahr der grün-schwarzen Koalition für Kretschmann deutlich besser anfangen können.

Insgesamt fünf seiner engen Mitstreiter haben seit Jahresbeginn ihren Ausstieg aus der Politik angekündigt. Los ging es mit Fritz Kuhn, dem Stuttgarter Oberbürgermeister, der gleich nach den Weihnachtsferien zu Überraschung aller ankündigte, im Herbst nicht mehr für den OB-Sessel zu kandidieren. Kuhn garnierte seine Abschiedserklärung noch mit einer kleinen Spitze gegen Kretschmann, als er sagte, 65 sei ein Alter, wo man noch einmal etwas Neues beginnen könne.

Ebenfalls ohne Vorwarnung gab dann vergangene Woche Kretschmanns Vertreter beim Bund in Berlin Volker Ratzmann seinen Wechsel als Cheflobbyist zur Post bekannt. In der gleichen Woche kündigten Umweltminister Franz Untersteller und die Finanzministerin Edith Sitzmann an, bei der kommenden Landtagswahl nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Dazu wird auch Kretschmanns Staatssekretärin für Bürgerbeteiligung Gisela Erler aus Altersgründen wohl nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Stuttgarter Zeitung fragt, was den vom Sexappeal des grünen Regierens übrig geblieben ist, wenn plötzlich keiner mehr dabei sein will.

Tatsächlich wird Kretschmann, der kein Freund von Veränderungen im laufenden Geschäft ist, nun zu einem fälligen Generationswechsel gezwungen. Und aus Fraktion und Partei drängen sich auch schon einige um die freiwerdenden Posten. Mit wem die Grünen in Stuttgart als OB-Kandidat ins Rennen gehen, soll sich im März klären. Genannt wird nach der Absage der Landtagspräsidentin Muhterem Aras immer wieder die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Thekla Walker.

Fraktionschef Andreas Schwarz könnte 2021 wie auch die beiden Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand in ein mögliches Kabinett Kretschmann III aufrücken. Vor einer vorzeitigen Kabinettsumbildung schreckt der Regierungschef zurück, Untersteller und Sitzmann werden ihre Ministerien bis zum Ende der Legislatur behalten.

Nur die Ratzmann-Nachfolge bei der Landesvertretung in Berlin ist seit vergangener Woche geregelt. Sie übernimmt überraschend der ehemalige Nabu-Landesvorsitzende Andre Baumann, der seit vier Jahren als Staatssekretär in Unterstellers Umweltministerium fungiert. Möglicherweise ist auch bei ihm geplant, dass er 2021 ins Kabinett wechselt, dann wohl als Umweltminister.

Man kann diese Personalrochaden für Luxusprobleme halten. Denn ein Jahr vor der Wahl hält sich Kretschmann und seine Partei in Umfragen komfortabel bei über 30 Prozent. Wobei die AfD verhindert, dass CDU (27 Prozent) und SPD (11 Prozent) eine Mehrheit ohne die Grünen bilden könnten.

Gleichwohl gibt sich die Union zweckoptimistisch. Sie setzt auf die schwindende Parteibindung der Wähler. Die entschieden sich immer kurzfristiger, hofft CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann. Bei ihrer Wahlkampfklausur ließ sich die Südwest-Union von einer österreichischen Agentur beraten, die sich den Erfolg von Sebastian Kurz auf die Fahnen schreibt. Auch Kurz regiert mit den Grünen – aber unter umgekehrten Vorzeichen.

In Wien sind Grünen der Juniorpartner der Konservativen. Nichts spricht im Moment dafür, dass sich die Verhältnisse in Baden-Württemberg dahin entwickeln.

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