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Kräuterhandel in PeruErst einmal Kapitalismus verstehen

Im Regenwald wächst die Katzenkralle, ein Heilkraut. Das wollen Dorfbewohner nun vermarkten. Dafür müssen sie lernen, wie der Markt funktioniert.

Kawana Sisa: 218 Menschen leben in dem Dorf, das 500 Hektar Nebelwald am Osthang der Anden besitzt. Bild: Ulrike Fokken

KIWANA SISA taz | Zur Begrüßung reicht Sinesio Tuanamá einen weißen Plastikbecher mit Chicha. Da er außer dem weißen nur noch drei blaue Becher besitzt, aber neun Leute gekommen sind, teilen sich die Gäste die Becher mit dem Getränk aus gekochtem Mais, Wasser und Zucker. Wenn einer ausgetrunken hat, stellt er den Becher auf den umgelegten Baumstamm im Hof von Sinesio Tuanamás Gehöft und tritt zurück. Aus einer Plastikkanne füllt er Chicha nach und reicht den Becher an den nächsten Gast. Jetzt, am frühen Morgen, ist die Chicha noch kühl und wohl alkoholfrei. Das ändert sich im Laufe des Tages unter der Tropensonne des hohen Amazonasgebiets im Norden von Peru.

Sinesio Tuanamá führt als gewählter Dorfvorsteher die Geschäfte von Kawana Sisa, einer der 16 indigenen Gemeinschaften der Quechua Lamistas. 218 Männer, Frauen und Kinder leben im Dorf. Zwei von drei Menschen sind unterernährt, sie laufen, wie seit eh und je, barfuß und leben in Hütten aus luftig gehängten Latten. Das Dorf wirkt wie aus einer Zeitschleife der Vergangenheit, wobei sich die materielle Armut der Bewohner einer Bewertung entzieht. Zu groß ist der Unterschied zum modernen Leben.

Die Menschen von Kawana Sisa besitzen eigenes Land, dazu 500 Hektar Nebelwald am Ostabhang der Anden, und sie haben eigene Gesetze. Die Polizei aus der Kleinstadt San José de Sisa holen sie nie, erzählt Sinesio Tuanamá. Wenn jemand etwas anstellt, entscheidet die Dorfgemeinschaft. Fünf Peitschenhiebe heißt es dann für einen Dieb und die Sache sei wieder gut und vergessen. Aber das komme so gut wie nie vor, sagt seine Schwägerin Consuelo Fapollima, die Hebamme in Kawana Sisa ist.

„Früher lebten wir sehr isoliert“, sagt sie, die Hände auf dem schwarzen Rock zusammengelegt. „Vielleicht nennen sie uns deswegen Indígenas.“ Eingeborene also. „Sie“, das sind auch die Leute, die heute zu Besuch gekommen sind.

Seifen und Salben

Fernando Mendíbes ist Molekularbiologe in einem Unternehmen für Seifen und Salben aus Heilpflanzen im 80 Kilometer entfernten Tarapoto. Er und sein Mitarbeiter Joey Tuanamá haben drei Belgier mitgebracht, die Naturheilmittel aus Peru in Europa und in den USA vertreiben. Mendíbes’ Firma arbeitet seit vier Jahren mit der Gemeinschaft von Kawana Sisa und der Produktionsgenossenschaft für Medizinpflanzen Ampik Sacha zusammen. Sie haben das traditionelle Wissen der Indígenas und die Wissenschaft zusammengebracht und Heilsalben gegen Rheuma oder Erkältungen entwickelt.

Die verkaufen sie in Naturheilläden in ganz Peru, und Consuelo Fapollima hat auch stets ein paar Dosen in ihrer Umhängetasche dabei. 20 Soles nimmt sie für eine Dose Unguento gegen den Husten. Tagelöhner in den Kaffeeplantagen der Umgebung bekommen 30 Soles am Tag, rund 8 Euro.

Mendíbes will heute mit dem Dorfvorsteher Sinesio Tuanamá und seinen Leuten den Preis für 600 Kilogramm Rinde der Liane Uncaria tomentosa aushandeln, in Deutschland bekannt als Uña de Gato oder Katzenkralle. Tee und Tinkturen aus Katzenkralle werden in der Krebstherapie und bei Immunerkrankungen eingesetzt.

Die Menschen hier im Amazonasgebiet nutzen die Liane gegen Magenbeschwerden, Geschwüre und Entzündungen. Dort hinten im Nebel der Berge wächst die Uña de Gato, sagt Sinesio Tuanamá, einen Tag Fußmarsch entfernt. 500 Hektar Wald haben sie, auf 100 Hektar wollen sie jedes Jahr Katzenkralle ernten und den Rest des Waldes in Ruhe lassen. „Sostenible“ sagt Sinesio Tuanamá, nachhaltig wollen sie ernten, es also so machen, wie sie schon immer den Wald genutzt haben. Aber was ist der Wert einer Liane in einer Gesellschaft, die nur den Tauschhandel kennt? „Wir brauchen Beratung“, sagt Consuelo Fapollima.

Fehlendes Know-how

„Beratung, wie wir aus den Pflanzen mehr machen.“ Die Hebamme weiß, dass ihre Gemeinschaft sich in einer Zeit des Umbruchs befindet, dass sie ihre Lebensweise den neuen Zeiten anpassen muss, um zu überleben und sich zu entwickeln. Consuelo Fapollima würde gern selbst im Dorf die Heilpflanzen verarbeiten, wie sie später im Garten erzählt. Dafür aber fehlen ihr das technische Know-how und Geld. Denn Mendíbes bringt ihr und den anderen Menschen von Kawana Sisa den Kapitalismus gerade erst bei.

Während die Besuchergruppe im Hof Chicha trinkt, bauen 15 bis 20 Männer weiter unten an der Sandstraße eine Maloca, ein Haus aus schmalen Holzlatten mit einem hohen Giebeldach aus Palmwedeln. Sie arbeiten gemeinschaftlich, ohne Bezahlung, solange, bis das Haus fertig ist. Was zu tun ist, machen die Bewohner von Kawana Sisa zusammen, wie das seit jeher üblich ist. Geld spielt innerhalb des Dorfes keine Rolle.

Jede Familie hat Land, auf dem sie Mais, Bohnen, Maniok, Kaffee, Tabak und die anderen Dinge fürs tägliche Leben anbauen. Sie halten Schweine und Hühner, und was sie nicht selbst essen, tauschen sie mit den Nachbarn und auf dem Markt. Kaffee und Mais verkaufen sie auch an vorbeifahrende Händler, doch die Preise sind niedrig und werden irgendwo in der abstrakten Realität einer Weltproduktenbörse ermittelt. Das Land der Gemeinschaft nutzen sie zusammen und teilen den Ertrag.

Die Menschen in Kawana Sisa brauchen aber Geld, die Moderne dringt durch die Zeitschleife. Die Jungen gehen nach San José zur Schule, von da nach Tarapoto zur höheren Schule, manchmal sogar zur Universität oder gar nach Lima zum Arbeiten. Das kostet. Und die, die bleiben, haben ein Mobiltelefon oder wünschen sich eins, wollen einen Fernseher, ein Dach aus Wellblech, ein Gewehr, eine Kuh. „Wir brauchen Kleidung“, sagt Ester Tupanamá, die Vorsitzende der Frauen-Gemeinschaft ist und den Heilpflanzengarten mit anderen bewirtschaftet. Sie beliefern die Produktionsgenossenschaft Ampik Sacha, die die Pflanzen vermarktet. Die Idee kam vor ein paar Jahren von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit.

Neue Kleidung ist unerschwinglich

Um das Dorf verlassen zu können und sich weiter zu entwickeln, brauchen die Frauen, Männer und Kinder Kleidung. Ester Tupanamá hat heute ihre weiße Bluse mit den bunten Stoffstreifen zum schwarzen Rock angezogen, aber das ist zu Ehren der Gäste. Die Festkleidung kann sie nicht jeden Tag tragen. Da sie und die anderen Frauen nicht mehr in den selbstgewebten Kleidern aus der eigenen Baumwolle herumlaufen, tragen sie sonst Hosen, Röcke, T-Shirts aus Kleiderspenden. Neue Klamotten sind unerschwinglich.

Zwölf Heilpflanzen bauen die Frauen im Gemeinschaftsgarten an, darunter auch den von den Europäern eingeschleppten Breitwegerich. Sie haben keinen Preis für die Pflanzen, aber sie lernen gerade, dass ihre Arbeitszeit in Geld berechnet werden kann. Wenn also Ruth Gómez von der Produktionsgenossenschaft anruft und 20 Kilogramm einer Heilpflanze bestellt, überlegen die Frauen, wie lange sie brauchen, die Blätter zu pflücken. Für die kleinen Blätter des Breitwegerichs bekommen sie dann mehr Geld als für die handtellergroßen Blätter der Ajosacha (Knoblauchwein), weil sie Ajosacha schneller pflücken können.

Ob die eine Pflanze kostbarer als die andere ist, spielt für die Preisfindung keine Rolle. Für die Frauen sind die Pflanzen gleich, obwohl sie natürlich genau wissen, wie die Pflanzen wirken. Die Frauen verdienen mit den Heilpflanzen mal 70 Soles, mal 120 Soles in zwei oder drei Tagen, und das ist „una muy buena oportunidad“ wie Ester Tupanamá sagt. „Eine sehr gute Gelegenheit.“ Die Frauen verdienen mit den Heilpflanzen sehr viel mehr als mit dem Mais, für den sie 20 Céntimos pro Kilo bekommen. So viel kostet ein Brötchen auf dem Markt von San José.

30 Meter hoch

Die Katzenkralle zu holen, ist Männersache. Aber auch die Männer kennen den Kapitalismus nicht. Da sie nicht im Stundentakt leben, wissen sie nicht, dass Zeit Geld ist. Und sie bekommen erst eine Ahnung davon, dass eine schwer zu findende Pflanze eine Kostbarkeit darstellt. Einen Tag laufen sie bis zu den Wäldern, müssen Essen für eine Woche, Decken, Macheten und Seile mitnehmen. Einige Männer steigen dann in die Bäume und kappen die Liane, das ist gefährlich. Sie hangelt sich vom Erdboden aus bis zu 30 Meter hoch und verankert sich mit ihren an Katzenkrallen erinnernden Dornen an den Bäumen.

Uña de Gato ist hölzern, also kein Seil wie die Lianen in den Tarzan-Filmen. Die Männer ziehen die Rinde der armdicken Lianen ab, trocknen sie, so weit das im Wald geht, und tragen sie schließlich zu Fuß ins Dorf. 600 Kilogramm getrocknete Katzenkralle möchten Mendíbes und die Belgier kaufen. Dafür brauchen die Männer mindestens das Dreifache an Lianen, also 1.800 Kilogramm Holz, schätzt Joey, der zwischen Europäern und Indígenas vermittelt. Seine Großeltern haben so gelebt wie die Menschen in Kawana Sisa, doch seine Familie lebt nun schon seit vielen Jahren in San José.

Joey hat Betriebswirtschaft in Tarapoto studiert und ist froh, sein traditionelles und sein modernes Wissen einsetzen zu können. „Gerecht zu sein, das gefällt mir“, sagt er. Er hat Dorfvorsteher Sinesio und den anderen erklärt, was der Unterschied zwischen Lohn und Preis ist. Und dass sie für die Katzenkralle einen Preis berechnen sollen – keinen Lohn. Um eben nicht sich zu verkaufen, sondern ein Produkt aus ihrem Wald.

Unterschied von Lohn und Preis

Dorfvorsteher Sinesio Tuanamá hat das bereits mit den Dorfbewohnern diskutiert. Sie besprechen alles gemeinsam und fällen dann eine von allen akzeptierte Entscheidung. 20 bis 25 Soles wollen sie pro Tag und Mann, je nach Alter. Mit 30 Leuten werden sie losgehen. Dazu kommt dann noch die Verpflegung. Das wär’s. Im Schatten unter dem Palmdach der neuen Dorf-Maloca erzählt Sinesio von den Beratungen, er hockt auf einem Stück Baumstamm im Kreis mit den anderen Dorfleuten und den Besuchern.

Das sind der Lohn und die Kosten, erklärt Mendíbes und erhöht den Lohn auf 30 Soles pro Tag, egal für wen. Aber dann, sagt er, kommen eure Gewinne. Und deswegen verdoppelt er die gesamte Summe. Dann sind die Kosten gedeckt, der Lohn bezahlt und der Gewinn für das Dorf eingestrichen. „Wir zahlen euch einen Preis“, sagt Mendíbes, dem der Unterschied wichtig ist. Sinesio Tuanamá wird das mit der Gemeinschaft beraten und in zwei Tagen anrufen, um die Entscheidung mitzuteilen.

Sie akzeptieren. Sie bekommen nun achtmal so viel Geld für die Katzenkralle, wie von den Händlern, an die sie früher verkauft haben.

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2 Kommentare

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  • Unabhängig davon ob das Projekt sinnvoll ist oder nicht, halte ich es für wichtig, nicht von "Tatsachen" auszugehen, die keine sind. Beispielsweise ist Zeit nicht Geld. Die Praktik Zeit in Geld umzurechnen, ist eine Institution, welche dem Eurasischen Raum entstammt. Dabei ist es hochgradig fragwürdig ob dies Zielführend für ein "gutes Leben" ist (wie MDARGE treffend anführte). Natürlich ist es immer Sinnvoll die ökonomischen Prozesse die derzeit global dominant sind zu verstehen: Das kann davor schützen ausgebeutet zu werden. Allerdings sollte in diesem Prozess des Teilens von Wissen über Kapitalismus etwas mehr Selbstreflektion enthalten sein - das gilt auch für die Berichterstattung darüber.

  • Dank Michael Moore wissen wir, niemand braucht das zu verstehen. Den Kapitalismus gilt es aktiv zu bekämpfen. Es kann nur eines geben, freie Menschen oder freies Kapital. Die Macht des Geldes steht in direktem Widerspruch zum Leben. Andernorts wird das Bruttosozialglück entwickelt. Statt die Münzen zu zählen, die reiche Bürger ihr Einkommen nennen, soll direkt die Lebensqualität bewertet werden. Das heißt Anzahl und Qualität der Nahrungsversorgung, der Kleidung, der Wohnungen, der Gesundheit, der Jobs, der Bildung, des Verkehrs, des Sports, der Freizeit. Es kann nicht sein, dass alles nur in Geld gerechnet wird.