Kontroverse um Wandbild in Tegel: Traumatische Pfeile
Eine Kiez-Initiative nimmt Anstoß an einer Fassadenmalerei eines spanischen Künstlers. Angeblich verstört sie Kinder und Flüchtlinge.
Der Horror! Das Grauen! Blut, Tod, Gewalt! Überfliegt man die Meldungen, die uns in den letzten Tagen aus dem Ortsteil Tegel-Süd erreichen, könnte der Eindruck entstehen, dort würden satanische Messen gefeiert. Aber weit gefehlt: Was von einigen Anwohnern und der Kiez-Initiative „I love Tegel“ angeprangert wird, ist ein Wandbild, das die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag beim angesagten spanischen Street-Artisten Gonzalo Borondo in Auftrag gegeben hat. Es ist Teil des Kunstprojekts „Artpark Tegel“, das einmal sieben großformatige Werke umfassen und die öden 14-Geschosser ein bisschen interessanter machen soll.
Das ist Borondo durchaus gelungen. Der Künstler hat einen flächig-schwungvollen, wenn auch düsteren Stil, und er weiß Formate geschickt auszunutzen. Auf der schmalen, zweigeteilten Fassade sieht man links ein Mädchen, das sich an die Hauskante lehnt, als ob es beim Versteckspiel zählen muss. Rechts leuchtet matt eine rote Sonne auf einen verschneiten Wald, und weit hinten erkennt man einen spärlich bekleideten Mann, der, von Pfeilen durchbohrt, an einem Baum lehnt.
„Brutal“ findet Felix Schönebeck von „I love Tegel“ das Bild. Die Erzieherinnen einer Kita hätten sich, besorgt über den „negativen Einfluss“ des Gemäldes, an ihn gewandt, berichtet er und erhebt mahnend die vermeintliche Stimme der Vernunft: „Diese Art von Kunst hat nach Auffassung der meisten hier in einem Wohngebiet nichts zu suchen!“ Im Übrigen sei ganz in der Nähe eine Flüchtlingsunterkunft geplant, da drohe eine Retraumatisierung.
Kunst, zumal im öffentlichen Raum, war schon immer Geschmackssache. Man kann sich aber auch in die Ablehnung hineinsteigern. Dann sieht man – so wie Schönebeck es phantasievoll ausmalt – Blut vom Körper des Mädchens triefen, wo der Maler wohl nur in künstlerischer Freiheit den Faltenwurf des Kleids mit rötlichen Strichen betont hat. Und die Blutlache, in der das Kind angeblich steht, entpuppt sich bei längerer Betrachtung doch eher als farbiger Fliesenboden.
Aufrecht und stark
Was die vom Protest aufgescheuchte Gewobag selbst an Interpretationshilfen anbietet, ist nicht unbedingt besser: „Das kleine Mädchen steht sinnbildlich für ein Flüchtlingskind, es schaut in einen verschlossenen Raum und sieht Hoffnung – auch wenn die Landschaft auf den ersten Blick nicht hoffnungsvoll wirkt. Denn das Kind sieht einen Menschen, der – obwohl von Pfeilen getroffen – aufrecht steht und stark ist.“ Na ja, hm, vielleicht doch noch mal das Bild anschauen.
Ein bisschen peinlich wird es übrigens dann, wenn der Jung-Christdemokrat Schönebeck nicht erkennt, dass es sich bei dem Pfeildurchbohrten nicht um irgendeinen Halbnackten handelt – sondern um die an klassische Darstellungen angelehnte Figur des Heiligen Sebastian. Merke: Ein bisschen Allgemeinbildung ist keine Kunst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“