Konstantin von Notz über den Fall Amri: „Es fehlt der Wille zur Aufklärung“
Was ist im Fall Anis Amri schiefgelaufen? Es seien überwiegend Scheindiskussionen geführt worden, sagt Konstantin von Notz von den Grünen.
taz: Herr von Notz, ein halbes Jahr nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz, nach zwei Sonderermittlern, einem Untersuchungsausschuss, einer Task Force im Parlamentarischen Kontrollgremium: Können Sie heute sagen, was im Fall Anis Amri schiefgelaufen ist?
Konstantin von Notz: Fakt ist, dass wir heute immer noch mehr Fragen als Antworten haben. Und das ist für einen Anschlag mit zwölf Toten, der so viele Gesetzesintiativen nach sich gezogen hat, völlig inakzeptabel.
Welche Fragen sind offen?
Wir wissen immer noch nicht, ob Amri Mitglied des IS war. Woher die Waffe kam. Wir wissen nicht, warum er mit Kenntnis der Behörden trotz 14 verschiedener Identitäten, einem Aufenthaltstitel unter falschem Namen und 13 Strafverfahren wie durch eine Käseglocke geschützt durch die Republik reisen konnte, sogar einmal gefahren von einem V-Mann. Warum wurde er nicht in Untersuchungshaft genommen? Das alles ist bis heute nicht aufgeklärt. Und auch, was die Zeit nach der Tat angeht, ist noch vieles merkwürdig und unverständlich.
Was genau?
Das Auffinden vom Amris Portemonnaie erst am nächsten Tag, eine stundenlange Verzögerung bei der Ausschreibung der Fahndung. Auch, dass Amri unbehelligt erst nochmal zu seiner Unterkunft in NRW und dann quer durch Europa fahren kann und dann bei einer Zufallskontrolle erschossen wird. Das alles erschließt sich mir noch immer nicht. Und auch dieser Tweet von Lutz Bachmann …
… der Pegida-Gründer hatte kurz nach der Verhaftung des ersten Verdächtigen, eines Pakistani, mit Verweis auf die Polizei gewittert, der Täter sei ein „tunesischer Moslem“.
Genau. Und das ist noch immer höchst rätselhaft.
Warum sind noch immer so viele Fragen offen?
Hier werden, wie in vielen anderen Fällen in den vergangenen Jahren, die Quellenlagen und Interessen der Dienste über die Aufklärung des Geschehens gestellt. Für mich ist zum Beispiel unerklärlich, dass Ben Ammar, der eng an Amri dran war, am Abend vorher mit Amri in einem Restaurant gestritten hat, der selbst verdächtigt wird, Mitglied des IS zu sein, der auf seinem Handy Aufnahmen vom Breitscheidplatz hatte, dass der – bevor die Tat vollständig aufgeklärt ist – abgeschoben wird und heute verschwunden ist. Das sind unerklärliche Vorgänge, für die das Bundesinnenministerium die Verantwortung trägt.
Der islamistische Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche Ende 2016 ist am Montag um 11 Uhr erneut Thema im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Der vom Senat eingesetzte Sonderermittler Bruno Jost soll einen Zwischenbericht vorstellen, der das Polizeiverhalten im Fall des islamistischen Attentäters Anis Amri untersucht. Jost hatte bereits vor Monaten Unstimmigkeiten und Manipulationen in den Akten zu dem Attentäter Anis Amri entdeckt.
Der Tunesier Amri hatte am 19. Dezember einen Lastwagen entführt und den polnischen Fahrer erschossen. Dann steuerte er das Fahrzeug in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Dabei starben 11 Menschen, mehr als 60 wurden verletzt. (dpa)
Das heißt, im Innenministerium fehlt der Wille zur Aufklärung?
Ja, der Wille fehlt offenkundig. Schon die Chronologie, die wir im Januar und Februar bekommen haben, war unvollständig und fehlerhaft. Von dem Bericht der Task Force des Parlamentarischen Kontrollgremiums wurden nur ein paar dünne Seitchen veröffentlicht, die wirklich relevanten Informationen bleiben im Dunklen. Diese Geheimniskrämerei ist ein unhaltbarer Zustand. Eine Bundesregierung, die unbedingt aufklären will, verhält sich anders.
Warum fehlt der Wille?
Vielleicht, weil die Erkenntnisse die Bevölkerung verunsichern könnten. Der NSA-Untersuchungsausschuss hat gezeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich die Öffentlichkeit über viele Hintergründe und Zusammenhänge der Kooperation zwischen NSA und BND freundlich formuliert in die Irre geführt hat. Ich befürchte, das könnte jetzt wieder der Fall sein.
Ihr Parteifreund Christian Ströbele hat die These in den Raum gestellt, ein ausländischer Geheimdienst könnte eine Rolle spielen. Teilen Sie diese Vermutung?
Das wäre eine Erklärung, aber auch ein maximal skandalöser Vorgang. Der Innenminister hat dazu gesagt, ihm lägen derzeit keine entsprechenden Informationen vor. Ein klares Dementi sieht anders aus. Aber ich will nicht spekulieren, ich bin an Fakten interessiert.
Braucht es also nach der Wahl einen Untersuchungsausschuss im Bundestag?
Es braucht eine parlamentarische Aufklärung. Der deutsche Bundestag kann nicht akzeptieren, dass bei einer so schweren Straftat, die solche Auswirkungen auf die deutsche Innenpolitik hat, die relevanten Hintergründe nicht öffentlich bekannt werden. Das ist auch unter Sicherheitsgesichtspunkten absolut inakzeptabel.
46, ist Jurist und stellvertretender Vorsitzender der grünen Fraktion im Bundestag.
Nun wurden schon zahlreiche Konsequenzen gezogen, unter anderem wurde für sogenannte Gefährder die Abschiebehaft erleichtert und die Fußfessel eingeführt. Was ist daran falsch?
Keine dieser Maßnahmen hätte den Fall Amri verhindert. Das Problem war ja, dass man aus den vielen Informationen und Erkenntnissen nicht die richtigen Schlüsse gezogen hat. Wir haben wochenlang darüber diskutiert, ob man ihn in Abschiebehaft hätte nehmen können. Das war gar nicht die Frage. Er hätte in Untersuchungshaft gehört, weil er schwere Straftaten wie gewerbsmäßigen Drogenhandel begangen hat. Und weil er Telefonate geführt hat, die nahelegen, dass er Mitglied des IS ist. Dafür kann man zehn Jahre in den Bau gehen.
Und so wie man diese Möglichkeiten ignorierte, wurden seine Telefonate damals gar nicht vollständig ausgewertet beziehungsweise übersetzt – bis heute! Wir haben überwiegend Scheindiskussionen geführt und verstehen die Hintergründe bis heute nicht. Insofern ist jede Gesetzesinitiative Aktionismus, wenn man sie mit dem Fall Anis Amri begründet.
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