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Konfliktforscher über Boko Haram„Der Konflikt läuft weiter“

Um gegen die Terrormiliz Boko Haram anzugehen, muss vollkommen umgedacht werden, sagt Atta Barkindo. Er nimmt ab Montag an der Tschadsee-Konferenz teil.

„Erinnerungen und Wut sind noch ganz frisch“: Ein Militärkonvoi in Nigeria Foto: reuters
Interview von Katrin Gänsler

taz: Herr Barkindo, in Berlin tagt ab Montag die Tschadsee-Konferenz. Eingeladen haben Deutschland, Nigeria, Norwegen und die Vereinten Nationen, um über humanitäre Hilfe, Stabilisierung und Entwicklungszusammenarbeit in der Region zu sprechen. Was erwarten Sie davon?

Atta Barkindo: Ich habe an vielen Konferenzen teilgenommen, in Singapur, Großbritannien und hier in Nigeria. Es ist Zeit zu handeln. Nigerias lokale Bevölkerung muss gehört werden, zum ersten Mal. Was sind ihre Sorgen und Ängste? Letztendlich sind sie es, die in den Kommunen leben müssen.

Wichtiges Thema ist die Terrormiliz Boko Haram. Sie hat sich in den frühen 2000er Jahren gegründet. Was hat Ihrer Meinung nach dazu geführt?

Als Nigeria 1999 zur Demokratie zurückgekehrt ist, gab es Raum für eine politische Debatte. Einige Regionen sind aber völlig vernachlässigt worden. Stattdessen wurden Politiker arrogant und haben ihren Reichtum zur Schau gestellt. Die Opposition hatte keine Stimme, und Religion ist zu einer Art Opposition geworden. Beispielsweise hat Boko Haram die Korruption angeprangert. Und als die Politik entschied, Boko Haram nicht mehr zu brauchen, hat diese wiederum den Staat angegriffen.

Im Interview: 

Atta Barkindo, 42, hat in London studiert, ist katholischer Priester und leitet in Abuja das Kukah Centre für Konfliktforschung und Friedensbildung.

Die Gruppe hat sich vor gut neun Jahren radikalisiert und gewinnt bis heute neue Mitglieder. Wie funktioniert das?

Mitglieder sind verhaftet worden, andere wurden erschossen. Die Frage ist tatsächlich, wie die Gruppe weiter Mitglieder rekrutieren kann. Das liegt an der absoluten Vernachlässigung der Region durch den Staat. Die Menschen verlassen sich auf die Religion und religiöse Institutionen. Das Predigen wird jedoch nicht reguliert. Dazu kommt die Armut, fehlender Zugang zu Bildung und Alternativen. Um das zu ändern, muss die Regierung kurz- und langfristige Strategien entwickeln.

Auch wenn sie anders als etwa 2014 keine Gebiete mehr besetzt hält, gelingt es Boko Haram, sich zu finanzieren. Wie ist das möglich?

Ich habe einige der inhaftierten Mitglieder interviewt. Sie sagten, anfangs haben sie Geld von Politikern bekommen. Da war die Gruppe ja nicht unbedingt gewalttätig, und Nigerianer sind sehr religiös. Politiker spenden auch für den Bau von Kirchen. Anschließend kam es zu Banküberfällen. Eine Einnahmequelle sind auch Entführungen, über die niemand spricht. Entführt werden beispielsweise die Eltern von Senatoren. Bei der Entführung von zehn Chinesen und der Frau des stellvertretenden Premierministers von Kamerun sollen mehrere Millionen US-Dollar gezahlt worden sein. Boko Haram ist clever und legt das Geld an. Das würde bei diesen Summen keine Bank verweigern. Auf Schwarzmärkten ist es wiederum sehr einfach, Waffen zu kaufen.

Sie sind im Bundesstaat Adamawa groß geworden. Dort ist es, anders als etwa in Plateau und Kaduna, in der Vergangenheit nicht zu ethnischen und religiösen Ausschreitungen gekommen. In Teilen Adamawas ist jedoch nun auch Misstrauen zwischen Christen und Muslimen spürbar. Woran liegt das?

Internationale Organisationen und die Regierung sitzen in Abuja in wunderschönen Büros. Hier fertigen sie ihre Pläne für die betroffenen Kommunen an und versuchen dann, diese vor Ort umzusetzen. Das ist sehr schwierig, da der Konflikt weiterläuft. Erinnerungen und Wut sind noch ganz frisch. Es gibt keine Prozesse für Versöhnung und Vergebung, die Regierung hat keine Plattform geschaffen, um darüber zu sprechen. Deshalb bleiben die Kommunen gespalten, fühlen sich vernachlässigt, übergangen und nicht nach ihrer Meinung gefragt. Dazu kommt der Eindruck, dass sich die Regierung um Anhänger von Boko Haram kümmert. In Gefängnissen gibt es Programme zu deren Entradikalisierung.

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4 Kommentare

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  • Zitat: „Die Frage ist tatsächlich, wie die Gruppe weiter Mitglieder rekrutieren kann.“

    Vielleicht sollte Europa zur Abwechslung mal von Afrika lernen? Unabhängig von Hautfarbe und Kultur sind Menschen schließlich überall den gleichen psychologischen Mustern unterworfen. Würden wir uns also fragen, wieso Rechte in Deutschland und besonders im Osten so viel Zulauf haben, kämen wir vermutlich auf ähnliche Zusammenhänge.

    Die Ideologie des Neoliberalismus hat dafür gesorgt, dass der Staat sich sehr weit zurückgezogen hat aus dem Leben der Menschen. Seine Autorität hat er zwar weitgehend behalten (er zieht immer noch Steuern ein, wenn auch nicht unbedingt von jedem, er zeigt Polizeipräsenz, vor allem bei Demos, und er spricht Recht), seine praktischen Hilfen hat er allerdings stark reduziert. Er zahlt noch, ja, aber er organisiert nichts mehr.

    Einige Orte (vor allem im Osten, wo man sehr gehofft hatte nach der Wende), fühlen sich vernachlässigt. Da fährt nach 20.00 Uhr kein Bus mehr, es gibt keinen Arzt und keine Schule, das Kino und das Freibad wurden dicht gemacht und auch sonst wird alles abgewickelt, was sich nicht „rechnet“. Aus Steuern wird statt dessen Arbeitslosigkeit alimentiert, Protz gebaut und eine „Wirtschaft“ gefördert, die (bestenfalls) Ausbeutung bedeuten. In die entstehenden Lücken springen aber hier nicht die Kirchen (privilegierte Partner des Staates), sondern die Rechten.

    Man kann das bejammern und man schimpfen darüber, dass sich die Leute nicht selbst helfen, sondern Rattenfängern auf den Leim gehen. Davon wird die Sache aber auch nicht besser. Wer nicht zu können meint und auch nicht will, wird sein Verhalten niemals korrigieren. Auch nicht, wenn er mit noch mehr Entzug dafür bestraft.

    Übrigens: Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch hier Leute entführt werden und Bewaffnete aufmarschieren. So „clever“ wie Boko Haram sind Nazis schließlich auch. Und es sind (auch) West-Banken und West-Waffenhändler, denen kein Geld zu sehr stinkt.

  • "Die Menschen verlassen sich auf die Religion und religiöse Institutionen."

    Warum auch nicht? Westliche Werte - Geld und ewiges Wachstum - sind nur für die attraktiv, die Geld haben.

    Jede Gesellschaft muss ihre Werte selbst finden. Es ist wie in der Ring-Parabel. Niemand weiß wer der wahre Gott ist, bzw. ob es ihn überhaupt gibt.

    Jeder muss seine Werte selbst finden. Und wenn ein religiöser Gottesstaat ohne Frauen- und Homorechte rauskommt, dann ist das halt so. Das wird sicher nicht ewig Bestand haben. Jede Einmischung von außen ist falsch,

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @A. Müllermilch:

      @ A.MÜLLERMILCH



      Bitte lesen Sie zunächst diesen Artikel



      news.abs-cbn.com/o...-attack-in-nigeria



      und anschließend diesen als vertiefenden Hintergrund.



      www.nytimes.com/in...-suicide-bomb.html



      Ihre "Doktrin" der Nichteinmischung wäre vielleicht für einen Vulkanier die folgerichtige Haltung, nicht für einen mitfühlenden Menschen

    • @A. Müllermilch:

      Zitat: „Jede Gesellschaft muss ihre Werte selbst finden.“

      Die Ringparabel ist eine Parabel, werter A. MÜLLERMILCH, ein literarisches Gleichnis, nicht Realität. Und so etwas wie „die Gesellschaft“, da hat Margeret Thatcher leider ziemlich recht, gibt es gar nicht.

      Gesellschaften werden von Einzelnen dominiert. Und diese Einzelnen glauben ganz überwiegend an nur einen einzigen Gott. An einen, von dem sie ganz genau wissen, dass er existiert. Dieser Gott nennt sich Mammon (das, worauf man vertraut), und es gibt auf diesem Planeten leider kaum noch Menschen, die ihm nicht unterworfen wurden.

      Mag ja sein, dass jeder seine Werte selber finden müsste. Aber die Wenigsten von uns bekommen auch nur eine Chance dazu. Jede Einmischung von außen ist falsch? Na prima! Dann machen Sie sich bitte schleunigst auf den Weg. Leben Sie frei und selbstbestimmt und reden Sie anschließend darüber mit anderen. Ich bin gespannt zu erfahren, wie weit sie kommen so ganz ohne Geld und damit ohne jene, die es besitzen.