piwik no script img

Konflikt mit der TürkeiErdoğans Ablenkungsmanöver

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Wirft Erdogan die BotschafterInnen wirklich raus, gräbt er sich selbst eine Grube. Für die türkische Wirtschaft sieht es schon jetzt katastrophal aus.

Selbst ein Teil seiner An­hän­ge­r*in­nen glaubt, er hat seinen politischen Kompass verloren Foto: ap

A utokraten gehen nicht von alleine. Sie werden gestürzt oder graben sich selbst eine Grube. Die türkische Opposition hofft, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinem Frontalangriff auf den Westen, falls er die Ausweisung von zehn BotschafterInnen tatsächlich durchzieht, gerade dabei ist, sich diese berühmte Grube zu graben.

Für Erdoğan sieht es aus mehreren Gründen schlecht aus, hauptsächlich aber, weil es seit Beginn seiner Alleinherrschaft 2018 mit der türkischen Wirtschaft immer weiter abwärts geht. Die Ärmsten haben kaum noch etwas zu essen, und der Mittelstand bangt um seinen Lebensstandard.

Entsprechend sinkt die Popularität des Präsidenten in den Meinungsumfragen immer weiter. Wären jetzt Wahlen, würde er wohl mit Sicherheit verlieren. In Situationen, in denen er in Bedrängnis ist, hat Erdoğan schon immer in den Angriffsmodus geschaltet. In früheren Jahren gegen die innenpolitischen Gegner, und seit die weitgehend ausgeschaltet sind, sucht er den äußeren Feind.

Das war bei seinen Militäroperationen in Syrien, Libyen und Aserbaidschan der Fall und ist auch das Grundmuster bei seinem jetzigen Generalangriff auf den Westen. Bislang war bei seinen politischen oder militärischen Angriffen aber immer noch so etwas wie eine Strategie erkennbar. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Zwar mag es ihm gelingen, mit dem Einprügeln auf den Westen seine treuesten Anhänger noch einmal zu mobilisieren, doch der Preis dafür wäre hoch. Viele in der Türkei fürchten (oder hoffen), zu hoch.

Lange nicht mehr so spannend

Ein ausgeprägter Konflikt mit westlichen Staaten, wechselseitiger Rausschmiss der Botschafter inklusive, würde der türkischen Wirtschaft wohl den Rest geben. Die türkische Lira ist gegenüber dem Euro und dem Dollar schon jetzt im freien Fall. Nach der Ausweisung der BotschafterInnen wäre es wohl ein Fall ins Bodenlose. Die Türkei könnte wichtige Importe von Lebensmitteln über Industrieprodukte bis zu Öl und Gas nicht mehr bezahlen.

Der Konflikt würde Erdoğan letztlich mehr schaden als nutzen. Vollzieht er den Rauswurf in den nächsten Tagen tatsächlich, wäre es nicht nur für die Opposition, sondern wohl auch für einen Teil seiner AnhängerInnen ein Zeichen, dass er seinen politischen Kompass verloren hat.

Kommt jetzt der Anfang vom Ende der Herrschaft Erdoğans über die Türkei? Bislang hat sich noch jeder Abgesang als verfrüht herausgestellt. Vielleicht bläst er die Attacke in den kommenden Tagen einfach wieder ab, vielleicht wird er einen anderen Weg finden, sich aus der Affäre herauszuwinden. Eines aber steht fest: Es war in der Türkei schon lange nicht mehr so spannend wie jetzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Ich denke nicht, dass Sie davon reden können, dass "die Wirtschaft" wichtig wäre für Erdogans Herrschaft. Anders: es geht nur um Patronage-Klientelismus als Verteilung von Gütern an Günstlinge. Aber wenn die Legitimität fehlt, dann wird mit offenem Terror und Chaos weitergeherrscht. Ob "die Wirtschaft funktioniert" ist völlig egal.

  • Haben Sie die neue türkische Verfassung gelesen? Eine Änderung wird es bei dieser umfassenden Alleinherrschaft wohl erst nach seinem Tod geben können, und sie wird wohl nur im Wege bürgerkriegsähnlicher Zustände herbeigeführt werden können. Dieser Verfassung zuzustimmen war ein historischer Fehler des türkischen Volkes, für den es jetzt leider bitter bezahlen muss. Uns Wessis wurde ja immer vorgeworfen, wir würden die Türkei eben nicht verstehen, ja, Pustekuchen.

  • Man kann nur hoffen, dass dort ḱeine deutschen Urlauber festsitzen.

    Eine Woche HP in *** inkl Flug für rund 200 € ... das wird seinen Grund haben ...

  • Im schlimmsten Fall setzen er und seine Familie sich mit den gestohlenen Milliarden nach Aserbaidschan ab. Dort werden sie sicherlich von seinem Gesinnungsgenossen Aliyev mit offenen Armen willkommen geheissen.

  • Für mich sieht es schon seit Jahren, spätestens seit dem sogenannten Putschversuch, der für Erdogan zum Vorwand für jede Art von Repression wurde, so aus, dass Herr T.E. auf den passenden Moment hinarbeitet/arbeiten lässt, um die Türkei raus aus der NATO hin zu einem Bündnis mit Russland zu bringen.



    Die USA scheinen noch keine Strategie für diese Möglichkeit zu haben.



    Russland baut im Schwarzen Meer und in Syrien seine Machtbastionen aus, sodass logischerweise E. die Türkei in dieser Zangensituation für besser gesichert hält, wenn er die Türkei gleich mit Russland verbandelt, zumal von dieser Seite keine lästigen Fragen nach Menschenrechten und dergleichen kommen werden.



    Die Wirtschaftskrise interessiert ihn und seine Getreuen in dieser Strategie de facto nur, um der EU noch einige Milliarden abzuverhandeln, um keine neuen Glüchtetenkrise auszulösen. Sobald in Syrien Assad seine Position noch weiter stabilisiert haben wird, wird Erdogan die Geflüchteten in Richtung Syrien und EU aus dem Land werfen.

  • Was ein richtiger Despot ist, rennt sich selbst auch in den Ruin, so zeigt oft die Geschichte.