Konflikt in der Ukraine: Der Krieg in den Köpfen
Die Gewalt im Donbass frisst sich immer tiefer hinein in die Familien. Selbst ein Abendessen mit Borschtsch endet schnell im Desaster.
BUTSCHA taz | Taras ist mit seinem Leben zufrieden. Vor zehn Jahren war er aus dem westukrainischen Lwiw in den Kiewer Vorort Butscha umgezogen. Stolz berichtet der Programmierer in fließendem Englisch von dem bescheidenen Wohlstand, den ihm seine Firma gebracht hat. Der berufliche Aufstieg sei nicht einfach gewesen, meint er, während sein dunkler BMW geräuschlos durch Kiewer Straßen aus der Stadt hinausrollt.
Butscha, 25 Kilometer entfernt, sei eine gute Adresse. In der Kleinstadt mit ihren knapp 30.000 Einwohnern lebten auch Größen des Showgeschäfts und des öffentlichen Lebens, unter ihnen die Sängerin Ruslana, Heldin des Maidan und Siegerin beim Eurovision Song Contest 2004. Mit der Ukraine werde es wieder bergauf gehen, ist Taras überzeugt. „Europa und die USA lassen uns nicht im Stich.“
Seit zwei Monaten leben auch Taras’ Schwiegereltern aus Suhres, einer Kleinstadt bei Donezk, in Butscha. Seine Frau Nadeschda tue für sie ja alles, fährt Taras fort. Und man biete ihnen tatsächlich vieles, was sie zu Hause im Donbass nicht haben: eine schöne Wohnung, Geld, dazu die Nähe zum Enkelkind Oles. In Butscha können sie endlich ruhig schlafen, brauchen keine Angst vor dem Krieg und den Terroristen zu haben.
Nette Leute seien sie, die Schwiegereltern. Nur politisch, seufzt Taras, politisch seien sie nicht zu ertragen. Die hätten immer noch nicht begriffen, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt und die Ukraine nicht zu Russland gehört. Ewiggestrige eben, stecken geblieben in den grauen Zeiten der Sowjetunion. Warum sie auch nach zwei Monate in Butscha immer noch so denken, sei ihm ein Rätsel.
Stillleben mit Schwiegereltern
Während Taras sinniert, rollt der BMW langsam durch ein Kiefernwäldchen. Dann öffnet Taras mit der Fernbedienung die Garage. Vor vier Jahren hat er sich hier mit seiner Frau eine Vierzimmerwohnung gekauft. Etwas verloren hocken Tatjana und Igor, die Schwiegereltern, auf einem Sofa. Das Wohnzimmer ist geräumig, ein Kamin schafft wohlige Wärme. Zwischen den beiden Fenstern, die den Blick auf das Wäldchen freigeben, steht ein Aquarium.
Der Schlosser Igor begrüßt in seinen abgewetzten Jeans den Gast aus Deutschland. Igor ist Russlanddeutscher, blond und blauäugig. Vor Jahren, als er noch in Jekaterinburg am Ural lebte, eröffnet Igor, hatte er überlegt, einen Antrag auf Übersiedlung nach Deutschland zu stellen. Dann aber nahm er einen Job im Donbass an.
Nadeschda, die 31-jährige Tochter von Tatjana und Igor, ist mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. Der zehnjährige Oles spielt auf einer Playstation. Alle Erwachsenen beobachten den Jungen, offenbar froh, dass er mit seinem Spiel für einen Augenblick von der Politik ablenkt.
Der Borschtsch wird mit Smetana gekrönt
Nadeschda hebt sich auch äußerlich von ihren eher ärmlich gekleideten Eltern ab. Die energisch auftretende Frau ist Managerin bei Microsoft in Kiew, hat schwarz gefärbte, kurze Haare, trägt einen Hosenanzug. Sie serviert ukrainischen Borschtsch, mit Rindfleisch, Roter Bete, Kartoffeln, Kohl und Zwiebeln. Zum Schluss krönt sie den Eintopf mit einem Löffel Smetana, saurer Sahne.
Auf dem Maidan sei sie von Anfang an dabei gewesen, erzählt Nadeschda. An den Wochenenden organisierte sie deshalb ein Kindermädchen für Oles. „Der Maidan hat in uns wieder Hoffnung auf ein besseres Leben geweckt. Auf ein Leben in Würde. Nun können wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen“, ist sie überzeugt.
Während alle löffeln, läuft nebenbei der Fernseher; der Nachrichtensprecher berichtet von den Erfolgen der ukrainischen Armee gegen die „Terroristen“ im Donbass. Auch in seiner Firma sammle er Spenden für die ATO, die „Antiterroroperation“, bemerkt Taras.
Nadeschda ist fassungslos
„Du spendest, damit man uns schneller töten kann?“, platzt es aus Tatjana heraus. „Weißt du“, sagt sie zu ihrer Tochter, „dass deine Schulfreundin Ira aus Donezk vor wenigen Tagen ihren Sohn verloren hat? Der Junge stand vor dem Kindergarten, als er von Splittern tödlich getroffen wurde. War das auch ein Terrorist?“, faucht sie ihre Tochter an.
Nadeschda ist fassungslos, als sie die Nachricht hört. Taras hingegen hat schnell eine Erklärung. „Weißt du, Tatjana“, sagt er und stellt sich vor das Aquarium, „wenn eure Leute Kinder als lebende Schutzschilde missbrauchen, müsst ihr auch begreifen, dass ihr die Konsequenzen zu tragen habt.“
Wortlos verschwindet Nadeschda mit Oles im Kinderzimmer. Taras geht zum Rauchen vor die Tür. Wenn man ihn nicht verstehen wolle, brauche er auch nicht mehr zu reden, murmelt er dann und geht ins Kinderzimmer. Er glaube dem ukrainischen Fernsehen mehr als seiner Schwiegermutter, ruft ihm Tatjana weinend hinterher. Igor sitzt stumm daneben und hält ihre Hand. „Die Familie ist wichtiger als die Politik“, sagt er nur.
Tatjana kann das Gerede nicht mehr länger ertragen
Sie habe sich entschieden, wieder zurückzufahren nach Suhres, eröffnet Tatjana nach langem Schweigen. Kiew sei trotz aller Delikatessen, trotz der wunderbaren Wohnung und des Enkels nichts für sie. Lieber sei sie zu Hause im Donbass, bei ihren Freunden, ihrem Garten und habe Menschen um sich, die sie verstehen, auch wenn Krieg herrsche. Das Gerede von der „Vernichtung der Terroristen im Donbass“ könne sie jedenfalls nicht mehr länger ertragen.
In Kiew würden Igor und sie doch nur als Menschen zweiter Klasse angesehen, fährt sie fort. „Wir im Donbass sind für die Kiewer Bevölkerung doch nur Zugereiste aus Russland, die überhaupt keine Ahnung von der ukrainischen Geschichte haben.“ Tatjana nimmt vorsichtig das Foto von Oles, das auf einem Schränkchen steht. Auch ihm zuliebe sei sie nach Kiew gekommen, sagt sie leise. Doch bei der Begrüßung sei ihr bereits klar gewesen, dass Welten sie trennten. „Baba, bist du auch eine Banditka?“, habe er misstrauisch gefragt.
Sie habe immer davon geträumt, mit ihrem Enkel zusammenzuleben, ihm eine gute Großmutter zu sein. Gerne würde sie ihn versorgen, während die Eltern bei der Arbeit seien. Und nun müsse sie sich von ihm fragen lassen, ob sie eine Banditin sei. Dabei habe sie die „Volksrepublik Donezk“ nie unterstützt. Sie wolle auch gar keinen Anschluss an Russland. Lediglich im Mai habe sie beim Referendum für die Unabhängigkeit des Donbass gestimmt.
Der Kummer bricht aus ihr heraus
Es scheint, als breche jetzt aller Kummer aus Tatjana heraus: In Kiew werde sie immer wieder diskriminiert. Kurz nach ihrer Ankunft in Butscha wollte sie in der Hauptstadt Arbeit suchen, wollte sich mit der Betreuung von Kindern oder Kranken etwas verdienen. Doch die Gespräche seien meist schnell beendet worden, wenn klar wurde, dass sie aus dem Donbass kommt. In der zweiten Woche habe sie einen Arzt aufgesucht. Der habe sie rangenommen wie ein Polizist. Es gebe aber auch viele gute Menschen, räumt sie ein, die ihr weiterhelfen, wenn sie von ihrer Situation berichte.
Die Tochter kommt aus dem Kinderzimmer zurück. Sie habe am nächsten Morgen wichtige Termine, sagt sie entschuldigend, bevor sie ohne weiteren Blickkontakt mit ihren Gästen in der Küche verschwindet, um Tee zu bereiten.
„Im tiefsten Inneren ihrer Seele ist meine Tochter sicher sehr gespalten“, vermutet Tatjana. Sie sei sicherlich nicht damit einverstanden, dass ihr Mann den Krieg gegen den Donbass für ein notwendiges Übel hält. „Wenn er die Menschen im Donbass hasst, warum hat er dann meine Tochter geheiratet, die in Russland geboren und im Donbass aufgewachsen ist?“, fragt sie. Ihre Tochter habe ihr Geld gegeben, viel Geld.
Von Gardisten ausgeraubt
Als sie noch im Donbass wohnten, seien sie einmal bei ihrer Rückkehr aus Kiew an einem Checkpoint der Nationalgarde ausgeraubt worden, erzählt Tatjana. 2.000 Euro hätten die Nationalgardisten ihr abgenommen. Und sie sei nicht die Einzige gewesen, die von diesen Leuten ausgeraubt wurde. Ihre Nachbarin habe Ähnliches berichtet. „Im Krieg ist es wie im Krieg“, habe ihr Schwiegersohn damals stoisch geantwortet. Schlechte Leute gebe es eben überall und zu allen Zeiten.
Die Tochter kommt mit heißem Tee aus der Küche zurück. Taras zieht es dennoch vor, weiter im Kinderzimmer zu bleiben. „Mama“, sagt Nadeschda und legt ihre Hand auf das Knie ihrer Mutter. „Taras und ich wollen zunächst mal kein zweites Kind. Wir haben Angst, dass eure Leute eines Tages nach Kiew kommen. Taras hat sich um eine Stelle in Los Angeles beworben. Wenn alles klappt, könnt ihr nachkommen.“
Die Mutter schweigt, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Wir werden nicht mitgehen. Wir gehen wieder zurück nach Suhres, in den Krieg“, sagt sie leise. Sie wolle weder in die USA noch in ihre russische Heimat am Ural zurück. Sie werde heimreisen, dort alle Fenster mit Brettern vernageln und hoffen, dass es sie nicht erwischt. Und wenn doch, dann werde sie eben sterben. Einen Keller, in dem sie sich verstecken können, habe sie nicht.
Schlimmer als der Krieg sei der Krieg in der Familie, die Entfremdung von ihrer Tochter und ihrem Enkel. Doch zuerst werde sie zu Hause ihre Tochter aus den Skype-Kontakten streichen. „Ich kann deine virtuellen Küsse über Skype nicht mehr länger ertragen. Deine Familie sammelt Geld für den Krieg gegen uns, und du küsst mich?“
Igor sitzt die ganze Zeit wie versteinert und hält die Hand seiner Frau. Er starrt minutenlang an die Decke. Dann sagt er kaum hörbar: „Die Familie ist wichtiger als die Politik. Wir kommen mit in die USA.“
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