Kommentar von Erik Peter zu Berlins Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen: Berlinschafft das!
Erik Peter
ist Redakteur für Remmidemmi
Jede Krise ist relativ. Ab dem Spätsommer 2015 erreichten täglich bis zu 1.000 Geflüchtete überwiegend aus Syrien und Afghanistan Berlin. Damals wurde das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) an der Moabiter Turmstraße zum Sinnbild überforderter und unwilliger staatlicher Strukturen. Tausende Menschen warteten dort teils tagelang auf ihre Registrierung und Erstversorgung – auch nach Monaten hatte sich die Situation kaum gebessert. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ machte die Runde: Es war eine Verwaltungskrise.
2022 gehört der Begriff nicht zum Vokabular, um die derzeitige Situation zu beschreiben. Das ist umso überraschender, wenn man die Zahlen vergleicht: Nahm Berlin 2015 insgesamt 55.000 Geflüchtete auf, wird an diesem Wochenende bereits der 100.000. Flüchtling aus der Ukraine in der Stadt ankommen – innerhalb von zwei Wochen, 13.000 Menschen pro Tag. Auch wenn etwa ein Drittel direkt weiterreist, muss die Stadt so viele Menschen erstversorgen und unterbringen wie nie zuvor. Und bislang konnte jeder ankommende Flüchtling mit einem Bett versorgt werden. Zwei Faktoren sind dafür ausschlaggebend: verbesserte staatliche Strukturen und die riesige Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft.
Bereitschaft statt Resignation
Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), Nachfolgebehörde des Lageso, machte sich umgehend an die Arbeit, obwohl es formal gar nicht zuständig war, weil es sich bei den Menschen aus der Ukraine nicht um Asylbewerber:innen handelt. Und die zuständigen Politiker:innen vermittelten statt Resignation vor allem die Bereitschaft, alles zu tun, um mit der Herausforderung fertig zu werden. Es gilt wieder: „Wir schaffen das.“
Die Stadt würde dem Ansturm dennoch nicht gerecht werden, wenn nicht Tausende Helfer:innen und professionell aufgestellte Hilfsstrukturen einen Großteil der Arbeit übernehmen würden. Die Freiwilligen am Hauptbahnhof waren schon da, als die ersten Flüchtlinge ankamen und die Strukturen im LAF erst noch hochgefahren werden mussten. Viel mehr Flüchtlinge haben bislang ihr Bett in privaten Wohnungen als in staatlichen Einrichtungen gefunden.
Und dennoch: Angesichts der Anzahl, mit der noch vor zwei Wochen niemand gerechnet hat, beweist nicht nur die Stadt als ganzes, sondern auch der Senat und das LAF seine Handlungsfähigkeit. Ein Grund zur Zufriedenheit ist das trotzdem nicht. Niemand kann derzeit sagen, wie lange der riesige Andrang Geflüchteter in Berlin weitergehen wird und wie viele Ressourcen noch mobilisiert werden können. Die Krise ist weiterhin ganz nah.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen