Flüchtlinge

Es ist einfach, sich über das Versagen von Behörden aufzuregen.Etwas ganz anderes ist es, selbst als Freiwilliger einzuspringen

Eine Wiese in Deutschland

Unser Autor kam, um über die Zustände bei der Flüchtlingsregistrierung zu berichten. Er blieb als Helfer – als einer von denen, die für einen Rest Menschlichkeit sorgen

Auch ein Geige kann eine Hilfe sein: Ein Freiwilliger spielt auf dem Gelände des Lageso für Flüchtlingskinder Foto: Christian Mang

AUS BERLIN Gereon Asmuth

Ich bin jetzt Entscheider. Die mit Papieren darf ich reinlassen. Die ohne muss ich zurückschicken. Das entscheidende Papier ist hier ein Stück Kreppband am T-Shirt, am Kleid, am Hemd. Darauf mit Filzstift der Name. Gerda, Ronja, Ebru, Ebrus Mann, Malte, Maik, Omar, Mustafa.

Die Berliner, die hier auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhauses im Stadtteil Moabit unterwegs sind, gehören zur Initiative „Moabit hilft“. Sie sammeln Spenden. Sie sortieren Kleider. Sie verteilen Essen. An die anderen. Die Flüchtlinge, die, die ich von einem Bereich der Wiese fernhalten muss, der ausschließlich für die Helfer reserviert ist. Damit es hier nicht zu chaotisch wird.

Die. Sie stehen dahinten. Hinter dem roten Flatterband. Wer es überschreitet, riskiert, angebrüllt zu werden. Von einem der engagierten Helfer. Der eine oder andere Nerv liegt blank. Meist werden sie freundlich gebeten, zurückzugehen. Keine Einzelfallhilfe, sagte eine der Helferinnen zu mir. Fang da erst gar nicht mit an. Denn es sind viele. Zu viele für uns, für die bestimmt hundert Freiwilligen, die versuchen, das Schlimmste zu lindern.

Das Schlimmste befindet sich auf der anderen Seite – auf der großen Wiese hinter dem Backsteinbau. Dort warten täglich rund eintausend Flüchtlinge auf ihre Erstregistrierung beim zuständigen Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Beim Lageso. Sie warten draußen. In langen Schlagen zwischen rot-weißen Polizeigittern. Erst um einmal eine Nummer zu bekommen. Und dann wieder vor dem nächsten Haus, damit ihr Fall, ihr weiteres Schicksal behandelt wird. Das kann Tage dauern.

Vier Dixie-Klos

Das Schlimmste sind nicht die tausend Flüchtlinge. Nicht die vielen jungen Männer, nicht die Kinder, die zum Teil hochschwangeren Frauen. Die Kranken. Die Verletzten. Das Schlimmste ist das komplette Staatsversagen auf dieser Wiese mitten in Berlin. Da stehen vier Dixie-Klos. Und zwei sehr provisorische Zelte für erste Hilfe. Mittlerweile gibt es einen Tisch, an dem Wasser ausgeschenkt wird. Aber Versorgung gibt es keine. Jedenfalls nicht von staatlicher Seite.

Diana hat gesagt, wenn du helfen willst, frag Anna, da vorn an dem kleinen Tisch. Anna sagt, wenn du helfen willst, musst du deine Hände desinfizieren und Gummihandschuhe überziehen. So will es das für Hygiene zuständige Amt. Die Verwaltung schafft es nicht, die Flüchtlinge mit Essen zu versorgen, aber sie hat Zeit, Essensspenden zu kontrollieren.

Und was kann ich tun?, frage ich. Keine Angst, du wirst hier schon aufgesogen, antwortet Anna.

Kurze Röcke zum Roten Kreuz

Koordination: Ab Montag soll vor dem Lageso einiges besser werden. Nach langen Verhandlungen mit dem Amt und „Moabit hilft“ übernimmt die Caritas die Koordination der Hilfe. Sie darf anders als „Moabit hilft“ ein leeres Haus an der Wiese nutzen, in dem es auch Räume für ärztliche Behandlungen gibt. Und künftig dürfen Flüchtlinge auch Klos im Lageso-Gebäude nutzen dürfen.

Engagement: Die Anwohner­initiative gibt die Koordination ab, hört aber nicht auf zu helfen. Für Kinderbetreuung, Essenverteilen etc. werden weiter Freiwillige gebraucht. Am Wochenende suchte „Moabit hilft“ Köche, die im Laufe der Woche am Cateringwagen die 1.500 warmen Mahlzeiten täglich zubereiten können. (ga)

Russisch? Kann hier jemand Russisch?, ruft jemand über den Platz. Arabisch? Wer kann Arabisch? Serbokroatisch? Albanisch? Fast für alle Sprachen gibt es unter den Freiwilligen Dolmetscher. Doch was nutzt es, wenn man Farsi kann, aber nicht weiß, wie, ob und wo man ein Flüchtlingskind in der Schule anmelden muss.

Ich kann keine der benötigten Sprachen, also geh ich zur Kleidersortierung. Kurze Röcke und Hosen kommen gleich auf den Stapel fürs Rote Kreuz, erklärt mir eine der Eifrigen, weil die Muslime so was nicht tragen. Aber, sagt eine andere, da sind doch ganz viele auf der Wiese, die… Nein, sagt die Erste, das ist so entschieden.

Kann mal jemand beim Melonen-Schleppen helfen?, schallt es über den Platz. Ich nutze die Gelegenheit und ergreife die nächste Aufgabe. Brot ist alle, sagt Ebru. Ich kaufe im nächsten Supermarkt 20 Fladenbrote. Ist das genug?

Kann mal jemand auspacken helfen? Ein Auto fährt vor, darin hundert Rucksäcke, jeweils mit dem Nötigsten gefüllt. Zahnbürsten und Decken, Traubenzucker und Nüsse und so was. Alles mit Spenden finanziert. Alles kommt erst mal ins Lager. Eine Flüchtlingsfrau steht mit großen Augen neben dem Auto. Aber alles kommt erst einmal ins Lager. Es soll ja gerecht verteilt werden. 100 Rucksäcke. Was ist da gerecht?

Ich stehe daneben am Kontrolltisch zur für die Flüchtlinge abgesperrte Zone. Ich bin ein schlechter Kontrolleur. Mehrfach huschen kleine Jungs durch. Später kommt eine Deutsche und fragt nach einer Jogginghose für die 16-jährige Syrerin neben ihr, die ohne Familie hier ist. „Keine Einzelfallhilfe“, erkläre ich, „wir kommen zu den Leuten auf die Wiese und dann…“, spule ich die übliche Erklärung ab.

Wir bringen das Essen. Warmes Essen. Reis, Fleisch, Gemüse in Styroporschachteln abgepackt. Zwölf Stück pro Kiste. Für eine Wiese mit tausend Menschen. Geht immer mindestens zu zweit, sagen die Erfahreneren. Geht aber auch nicht in zu großen Gruppen, dann bildet sich ein Pulk. Und versucht erst einmal Frauen und Kindern mit Essen zu versorgen.

Polizei und Krankenwagen

Brote schmieren im Akkord Fotos: Björn Kietzmann

Wir kommen nicht einmal bis zu der Wiese. Schon auf dem Weg um das Backsteingebäude herum stehen die Ersten. An der Ecke gibt es kein Weiterkommen mehr. Männer mit flehenden Blicken kommen auf uns zu. Hier und da ein kleiner Junge. Wir wollen das Essen gerecht verteilen. Aber was ist gerecht? Beim zweiten Gang wenig später kommen wir etwas weiter. Auch weil vorneweg ein Arabisch sprechender Helfer geht. Aber wir enden in einer Traube hungriger Menschen. Die letzte Schachtel geht im Gezerre zu Bruch, das Essen fällt auf den Boden. Entsetzt schauen sich die Flüchtlinge an. Es ist zum Heulen. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, ruft später einer der Engagiertesten. Und bleibt dann doch den ganzen Abend.

Seit zwei Wochen bin ich jetzt hier, erzählt eine der Freiwilligen. Physisch, sagt sie, könnte ich das noch länger aushalten, aber psychisch, da komme sie an ihre Grenzen. Zumal sie in den letzten beiden Nächten auch noch syrische Familien mit zu sich nach Hause genommen habe, die keinen Schlafplatz hatten.

Es ist Abend, die Wiese vor dem Amt ist nahezu leer, wir haben die letzten Brote verteilt und den Müll eingesammelt. Doch draußen, am Eingang zum Gelände, stehen noch rund 150 Menschen, die nicht wissen, wo sie die Nacht verbringen sollen. Anders als an den Vortagen, gibt es nicht einmal einen Bus zu den Notübernachtungen, weil die schon überfüllt seien. Kümmert euch, erzählt eine Frau von „Moabit hilft“, hätten die vom Amt gebeten. Sie wüssten auch nicht mehr weiter. Viele kleine Kinder sind unter den Wartenden, auch hier zwei hochschwangere Frauen. Mehrere Familien aus Albanien, eine aus Syrien. Die eine Schwangere muss aufs Klo. Gegenüber im Park gibt es eine Citytoilette. Hat mal jemand eine 50-Cent-Münze?, fragt Francesca. Die Münze ist schnell gefunden, doch das Klo ist besetzt. Drinnen ein Mann mit Stuhlproblemen. Draußen die Schwangere. Ein anderes Klo? Nicht in Sichtweite.

Die jungen Männer schlafen im Park gegenüber. Aber die Familien? Es wird verhandelt. Auch darüber, ob die Schwangere auf einem Stuhl vor dem Pförtnerbüro sitzen darf oder ein paar Meter weiterrücken muss. Sie muss.

Zu Fuß durch Berlin

Ein Lageso-Mitarbeiter zuckt mit den Schultern. Er tue doch schon, was er kann. Er sei seit8 Uhr morgens hier. Ginge es nach meinem Chef, sagt er, hätte ich um vier Feierabend machen müssen. Mittlerweile ist es fast 21 Uhr. Was man besser machen könnte?

Die Berlinerin Safaa Abujarour (links) bietet Übersetzungshilfe an

Dann die gute Nachricht. Es soll Platz für 30 Leute in der Notübernachtung an der Kruppstraße geben, eineinhalb Kilometer entfernt. Da steht eine riesige aufblasbare Zelthalle auf einem Fußballplatz. Wie die Flüchtlinge dahin kommen sollen? Zu Fuß. Also machen wir uns auf den Weg, leiten den Flüchtlingstreck durch die Berliner Nacht. Wählen 30 von den über 100 Wartenden aus, von denen wir meinen, dass sie es am nötigsten haben. Packen ihre Tasche so weit es geht auf Fahrräder. Bleiben immer wieder stehen, weil die Schwangeren nicht so schnell können. Kommen nach vielleicht 20 Minuten an. Hören, dass die Halle schon voll sein soll. Verhandeln mit diversen Sprachkenntnissen, dass unsere Familien doch reindürfen. Helfen beim Ausfüllen der unabdingbaren For­mulare. Wundern uns, wo jetzt der Ägypter geblieben ist,der mit uns im Treck war, obwohl wir ihn nicht ausgewählt hatten.

Wer genau uns denn geschickt hätte, will einen Mitarbeiterin der Notunterkunft wissen. Ob wir nicht irgendein Papier vom Lageso bekommen haben? Wir haben nur dieses kopierte Blatt mit der Wegbeschreibung. Aber da hat tatsächlich irgendjemand handschriftlich die Zahl 30 drauf gekritzelt und darunter unterschrieben. Die Mitarbeiterin ist erleichtert. Alles ist gut im Behördenland. Es ist 23 Uhr. Diese Menschen sind untergebracht. Für eine Nacht. Was danach kommt? Völlig offen.

Ein Albaner schenkt mir eine Zigarette.

Drei der syrischen Mädchen singen, klatschend, tanzend ein arabisches Kinderlied. Ringelreihen. Sie lachen.