Kommentar Wahl in Ägypten: Chancen am Nil

Hat Ägypten nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera? Nein: Muslimbrüder und die Kräfte der Revolution müssen sich gegen den Kandidaten des Mubarakregimes verbünden.

Eine Karikatur veranschaulicht die Wahlmöglichkeiten der Ägypter: Eine ratlose Kuh steht vor zwei Gängen, die am Ende beide zum Schlachthaus führen. Die Ägypter haben nun in der Stichwahl um das Amt des Präsidenten die Option zwischen Ahmad Schafik, einem Restposten Mubaraks und dem Muslimbruder Muhammad Mursi.

Doch die Wahl zwischen Pest und Cholera, wie sie von vielen Ägyptern beschrieben wird, könnte sich auch als Chance erweisen. Denn analysiert man die Wahlergebnisse, wird deutlich, dass die eigentlichen Wahlsieger in einer wenig komfortablen Lage sind. Sie wurden von weniger als der Hälfte der Ägypter gewählt. Der größere Teil hatte Kandidaten des neuen Wandels ihre Stimme gegeben, die sich allerdings aufgrund ihrer Aufsplitterung nicht durchsetzen konnten, allen voran dem säkularen Nasseristen Hamdenn Sabahi und dem liberalen Aussteiger aus der Muslimbruderschaft, Abdel Monem Abul Futuh. Die Gewinner Schafik und Mursi müssen nun deren Anhänger für sich gewinnen.

Schafik hat dabei wenige Optionen. Er kann versuchen, die PR-Maschine der alten Seilschaften aus dem Sicherheitsapparat und der ehemaligen Regierungspartei Mubaraks anzuwerfen, mit dem Versuch sein Image als Mubarak-Mann abzustreifen. Das ist schon in sich ein Widerspruch, auch wenn sein Credo: „Ich werde die Zeiten nicht zurückdrehen“ laut bis in die letzten Gassen des Landes zu vernehmen ist. Schafik klingt wenig glaubhaft. Dass gestern Nacht Schafiks Wahlkampfbüro in Flammen aufging, könnte nur ein Vorgeschmack sein, auf das, was noch kommen könnte. Der offene Bewunderer Mubaraks ist zur Wahl angetreten mit dem Versprechen, einmal im Amt „mit brutaler Gewalt“ wieder Ordnung und Stabilität herzustellen. Da ist schon eine Ironie, dass allein sein Wahlsieg und Durchkommen zu einer Stichwahl um das Präsidentenamt genau für das Gegenteil sorgt.

Aber auch die anderen Wahlsieger, die Muslimbrüder haben ein ernsthaftes Problem. Hatten sie bei den Parlamentswahlen im Winter noch die Hälfte der ägyptischen Stimmen erhalten, konnte ihr Kandidat Mursi nun nicht einmal ein Viertel der Stimmen hinter sich zu vereinen. Ihre Hochburg Alexandria gingen gar an den Nasseristen Sabahi verloren.

Zwei Optionen

Die Muslimbrüder haben jetzt zwei Optionen. Sie können versuchen, auch mit Hilfe der erzkonservativen radikalislamischen Salafisten ihren Kandidaten durchzubringen und ihren eigenen konservativen Kurs weiterfahren, in der Hoffnung am Ende Präsidentschaft und Parlament zu kontrollieren und ihre Agenda durchzusetzen. Das wäre nicht nur ein riskantes Manöver, will man den Wahlsieg absichern; es wäre auch ein Problem, wenn Mursi gewinnen würde. Denn als politische Kraft, die sowohl Parlament als auch Präsidentschaft kontrolliert, übernähmen die Muslimbrüder die volle politische Verantwortung für ein Land, dessen Berg an Problemen sie nie alleine lösen könnten, schon gar nicht in einer polarisierten Situation, die bei einem solchen Alleingang automatisch eintreten würde. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Muslimbrüder spätestens bei den nächsten Wahlen mit wehenden Fahnen untergehen würden.

Vieles deutet daraufhin, dass die Muslimbrüder sich bereits für ihre zweite Option entschieden haben. Anstatt ein politisches Monopol an sich zu reißen, bei dem sie am Ende nicht gewinnen können, strecken sie ihre Hände den anderen politischen Kräften entgegen, um ein Bündnis gegen die Rückkehr des alten Systems zu schmieden. Die Einladungen für Gespräche wurden bereits ausgesprochen, wenngleich die anderen Kräfte vor der gestrigen Ankündigung der endgültigen Wahlergebnisse und aufgrund ihres Misstrauens gegenüber den Muslimbrüdern noch gezögert haben. Aber die Diskussionen sind aller Orten am Nil in vollem Gange.

Schwieriger Konsens

Möglich wäre, eine Regierung der Nationalen Einheit zusammenzuzimmern, die im Falle von Mursis Wahlsieg berufen wird und die als Vizepräsidenten oder Ministerpräsidenten auch Platz für die jetzigen Wahlverlierer Sabahi und Mursi findet und auch christliche Kopten an prominente Stelle setzt. Möglich wäre auch, dass die Muslimbrüder die zukünftige Verfassung des Landes nicht als poltisch-islamisches Projekt ansehen und stattdessen garantieren, diese im Konsens mit Liberalen, Nasseristen und Linken zu schreiben.

Alle Seiten müssten dafür über ihre derzeitigen Schatten springen. Um ihre demokratische Legitimität zu behalten, müssten die Muslimbrüder ihre konservativen Islamvorstellungen auflockern und Liberale und Linke müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie Ägypten nicht über Nacht in ein säkulares Land verwandeln können, sondern die konservative ägyptische Gesellschaft dort abholen müssen, wo sie sich befindet. Und alle Seiten müssten sich ernsthaft des Themas annehmen, dass der Mehrheit der Ägypter auf den Nägeln brennt: der sozialen Frage.

Zeigen sich alle Seiten politisch reif, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass es gegen die polarisierende Figur aus den alten Zeiten, Schafik, zu einem Schulterschluss des neuen Ägypten kommt. Das wäre der Impfstoff, mit der sich Pest und Cholera verhindern ließen.

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

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