piwik no script img

Kommentar Verhaftete MenschenrechtlerAutokratischer Sturmwind

Daniél Kretschmar
Kommentar von Daniél Kretschmar

Der türkische Präsident Erdoğan lässt die Situation immer weiter eskalieren. Aber irgendwann wird auch er verlieren. Nur – was kommt dann?

Erdogan im Kreise seiner Liebsten (auch Nationaler Sicherheitsrat genannt) Foto: reuters

R ichterInnen, AkademikerInnen, Beamte, Soldaten, JournalistInnen und wenig überraschend auch MenschenrechtsaktivistInnen – wer ist in der Türkei noch nicht von Repressalien, Berufsverboten, Verhaftungen bedroht? Mit bisweilen stalinistisch anmutenden Säuberungswellen, die vorgeblich den Überfeind Gülen und den Terrorismus bekämpfen sollen, fegt der autokratische Sturmwind durch das Land.

Erdoğan dreht die Eskalationsspirale immer weiter. Viele Opfer der Repressalien wissen oft gar nicht, wie ihnen geschieht. Sie mögen nur deshalb entlassen worden sein, um Platz für AKP-getreue Absolventen der Imamschulen zu schaffen, oder sind Kollateralschäden einer Politik der Angst, die neben populärem Rückhalt in bestimmten Bevölkerungsgruppen die zweite Säule der Herrschaft moderner autokratischer Systeme ist.

Die Verhaftung einer Landeschefin von Amnesty International und gegen Überwachung engagierter ausländischer Spezialisten für Kommunikationssicherheit ist jedoch offensichtlich sehr gezielt. Jene, die in einem eigenartigen Diminutiv „Menschenrechtler“ genannt werden, sind tatsächlich gefährlich für de facto Diktaturen, aber auch die Vertreter zunehmend illiberaler Demokratien.

Denn diese Menschenrechtler sind keine Kombattanten im Kampf um die Machtpositionen im Staat – sie sind geduldige BotschafterInnen individueller Freiheit und Demokratie, stellen also nicht den Herrscher, sondern die Herrschaftsform selber in Frage.

Solche Angriffe können gerade Ansporn sein

Der Versuch, diese BotschafterInnen einzuschüchtern, wird selbstverständlich individuell Wirkung zeigen. SpezialistInnen der einschlägigen Organisationen zum Beispiel werden es sich, ähnlich wie kritische JournalistInnen, im Interesse der eigenen Sicherheit gewiss zweimal überlegen, ob sie die Türkei noch in ihren Funktionen bereisen wollen.

Auf längere Sicht aber können die Angriffe auf die Zivilgesellschaft nur das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorrufen. Schließlich sind solche Angriffe ja gerade Anlass und Ansporn, aktiv zu werden, für jene, die an Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung glauben.

Die Verfolgungswelle gegen alle wirklichen und herbeihalluzinierten Feinde des Status quo kann so helfen, kritischen Geist und handfeste Opposition hervorzubringen. Die delikate Balance zwischen Popularität und Repression, auf der ein autokratisches System seine Herrschaft gründet, hat immer ein Ablaufdatum – eines, das mit zunehmender Verengung der Eskalationsspirale immer näher rückt.

Die Frage ist also nicht, ob das System Erdoğan sich dauerhaft halten kann, sondern was ihm nachfolgen wird. Aus den entlassenen und verfolgten FunktionsträgerInnen in Staat und Wirtschaft werden sich seine vielleicht ganz ähnlichen Erben rekrutieren.

Die heute so bedrohten AktivistInnen, demokratischen PolitikerInnen und JournalistInnen aber werden dann noch immer die hoffentlich zahlreichen und lautstarken BotschafterInnen der Demokratie und individueller Freiheit sein, denen es beileibe nicht genügen wird, ein anderes Gesicht an die Spitze des Apparates zu stellen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Daniél Kretschmar
Autor
Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Newsletter unter: https://buttondown.email/abgelegt
Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
  • "Die delikate Balance zwischen Popularität und Repression, auf der ein autokratisches System seine Herrschaft gründet, hat immer ein Ablaufdatum – eines, das mit zunehmender Verengung der Eskalationsspirale immer näher rückt."

     

    Eine kluge, analytische Feststellung.

     

    Möge sie sich schnellstmöglich bewahrheiten.

  • Eskalationsplan: Erdogan auf dem Weg zum Pakt mit Putin

    Seit den massiven Protesten um den Gezi-Park in Istanbul und deren brutale Repression zeichnet sich ein klarar Eskalationsplan ab. Erdogan hat die Türkei in eine zunächst autokratische, nunmehr offen diktatorische Republik von "Erdogans Gnaden" verwandelt.

    Die Angriffe auf Nato-"Partner" Deutschland und die dauernden Verhöhnungen ("Nazi-System, "Pseudo-Demokratie"), dem offenbar viele in der Türkei noch folgen, die Massenverhaftungen und die Spionage in hierzulande zeigen eine klare Marschrichtung:

    Erdogan wird die Türkei in kürzester Zeit aus der NATO in ein Bündnis mit Russland treiben. Die Dauerprovokationen haben nur das Ziel, in Europa Reaktionen zu provozieren, die dann einen "beleidigten Türkenstolz zwingen" sollen, einen Pakt mit Putin zu schließen. Der hat die Blaupause dafür schon längst schreiben lassen:

    Wie die NATO raus aus der Türkei zu treiben ist".

    DAS WIRD ÜBERHAUPT NICHT MEHR LANGE DAUERN: Jüngst hat eine Nachrichten-Agentur in der Türkei geheime Information über die US-Aktivitäten in Syrien veröffentlicht, (Außerdem: Trump entzieht den Rebellen in Syrien die Waffenlieferungen, damit Putin problemlos seine ASSAD-Vasallen an der Macht halten kann. Deshalb hatte er in Hamburg mehr als geplant Zeit für Trump, um ihm so richtig seine Dankbarkeit zu vermitteln!!!)

    Putin dürfte gegenwärtig der zufriedenste Herrscher sein: Alles läuft wie geschmiert für ihn.

    Demnächst dürfte im NATO-Hauptquartier einiges zu diskutieren sein.

  • Wieso sollte es nicht 1000 Jahre lang autokratische Herrschaft geben können? Wir hatten in Deutschland auch fast 2000 Jahre religiös gestützte Feudalherrschaft. Und die Saudis haben das noch heute.

     

    1000 Jahre Autokratie muss nicht kommen. Kann aber. Es gibt Grund zur Sorge.

    • @Arne Babenhauserheide:

      Es besteht Hoffnung - auch ganz aktuell:

       

      Hunderttausende beteiligten sich am "Gerechtigkeitsmarsch".

      http://www.taz.de/!5423407/

    • @Arne Babenhauserheide:

      Schon vergessen?

       

      "Wir hatten in Deutschland" vor nicht allzu langer Zeit "Das 1000-jährige Reich", das gerade einmal 12 Jahre dauerte.

       

      Also: Kopf hoch und nicht verzagen.

  • Der Autor hat vergessen Beamte und Soldaten mit Binnen-I zu versehen; zumindest erstere sollte es auch in der Türkei geben.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @ingrid werner:

      Zweitere gibts auch.

  • Der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht. Altes gutes deutsches Sprichwort, wird funktionieren auch ohne Frau Merkel.

  • Mir ist das etwas naiv gedacht und geschrieben. Die Frage die sich stellt wird vielmehr die sein, ob es in naher Zukunft überhaupt noch Aktivisten in der Türkei gibt die sich gegen das System Erdogan auflehnen können und wollen. In Deutschland kann man frei für oder gegen alles demonstieren, in der Türkei wird man dafür dauerhaft eingesperrt. Darauf zu hoffen, dass der Despot sich in naher zukunft selbst erlegt und dann dieser Platz von demokatiefreundlichen Kräften übernommen wird ist iwenig realistisch.

    • @charly_paganini:

      Hihi... den Kommentar einleiten mit "Mir ist das etwas naiv gedacht" und dann behaupten, man könne in Deutschland frei und für alles demonstrieren. Ist nicht böse gemeint, aber das ist wirklich naiv.

      • @diapontisch:

        Nö, ist überhaupt nicht naiv. Ich kann hier im Namen der NPD als auch der PKK auf die Straße gehen ohne dafür ins Gefängnis zu kommen. Wenn mir jetzt einer mit G20 kommt...Auch in Deutschland gibt es Regeln für Demos. An die muss ich mich nicht halten, darf mich aber anschließend auch nicht beschweren. Die Repression in der Türkei mit Deutschland zu vergleichen, auch nicht böse gemeint, ist total abwegig.

    • @charly_paganini:

      ... und so kann solch eine Despotie gern auch mal ein paar Jahrzehnte dauern.

    • @charly_paganini:

      ich glaub auch, dass da eher der Wunsch der Vater des Gedankens ist, so sehr wir Kaczynski, Putin, Orban und Erdogan uns auch wegwünschen, sie werden uns leider wohl noch eine Weile erhalten bleiben. Liegt wohl auch mit daran, dass das demokratische Lager zu wenig Biss hat.