Kommentar Verdi: Streiken aus reiner Verzweiflung
Schlichtung im Kitastreik, bald Streik bei der Post – Verdi gibt sich kämpferisch. Das sieht stark aus, ist aber in Wahrheit schiere Verzweiflung.
D er Streik im Sozial- und Erziehungsdienst läuft noch, da plant Verdi bereits den nächsten großen Arbeitskampf: Falls die Arbeitgeberseite bis Donnerstagnachmittag das Verdi-Angebot nicht angenommen hat, droht auch bei der Deutschen Post ein unbefristeter Streik. Was auf den ersten Blick wie ein Ausdruck von Selbstbewusstsein erscheint, ist in Wahrheit ein Akt der Verzweiflung. Denn die zweitgrößte Einzelgewerkschaft Deutschlands steht mit dem Rücken zur Wand, im Konkreten wie im Großen und Ganzen.
Es ist ein Abwehrkampf, den Verdi bei der Post führt. Obwohl der ehemalige Staatsbetrieb Milliardengewinne schreibt, betreibt er die Flucht aus dem Haustarifvertrag – wogegen die Gewerkschaft ankämpft. Für die Rückführung der neu geschaffenen 49 Regionalgesellschaften, in denen ein rund 20 Prozent niedrigerer Stundenlohn gezahlt wird, ist Verdi bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Ihr Angebot enthält einen Verzicht auf eine lineare Einkommenserhöhung in diesem Jahr und eine Veränderung der Entgelttabelle zuungunsten neu eingestellter Beschäftigter. Außerdem ist ihre ursprüngliche Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung vom Tisch. Mehr kann man der Arbeitgeberseite nicht entgegenkommen.
Trotzdem lässt es die Post anscheinend unbeeindruckt. Dabei gehört sie immerhin zu den Konzernen, wo Verdi noch über einen hohen Organisationsgrad und entsprechend große Schlagkraft verfügt: Wenn dort die Zusteller die Arbeit niederlegen, dann bleibt der Briefkasten leer. Wenn diese Auseinandersetzung verloren geht, hätte das gehörige negative Auswirkungen auf die Gesamtorganisation. Kaum vorstellbar, dass dann Frank Bsirske den Bundeskongress im September in Leipzig politisch überlebt.
Seit ihrer Gründung 2001 steht Bsirske an der Spitze von Verdi. Damals organisierten sich rund 2,9 Millionen Mitglieder in der Dienstleistungsgewerkschaft. Heute sind es noch rund 2 Millionen. Alleine im vergangenen Jahr verlor sie fast 25.000 Mitglieder. Das hat nicht zuletzt ökonomische Konsequenzen. Die Folgen sind Personalabbau, Einschränkungen bei den Publikationen oder der Infrastruktur, beispielsweise durch die im Mai beschlossene Schließung der gewerkschaftlichen Bildungsstätte Lage-Hörste. Eine zündende Idee, wie der Abwärtstrend gestoppt werden könnte, ist nicht zu erkennen.
„Solidarität“ bleibt rein verbal
Verdi wirkt wie ein leckgeschlagener Tanker, den der Kapitän mit kopflosem Aktionismus wieder manövrierfähig machen will. Bestes Beispiel dafür ist der Amazon-Streik. Ohne sich eine Ausstiegsstrategie zu überlegen, ist Verdi in einen Arbeitskampf gegangen, der unter den gegebenen Bedingungen nicht zu gewinnen ist. Fahrlässig wurde die Hartleibigkeit des US-Onlineversandhändlers unter- und die eigene Mobilisierungsfähigkeit wie die Auswirkungen auf die Kunden überschätzt. „Dieser Kampf hat die Solidarität der gesamten Organisation“, behauptet zwar Bsirske nach wie vor. Doch kaufen können sich die Amazon-Beschäftigten davon nichts – solange diese „Solidarität“ rein verbal bleibt.
Im festgefahrenen Tarifstreit um eine höhere Eingruppierung von Kita-Personal und Sozialarbeitern soll nun eine Schlichtung die Lösung bringen. Darauf einigten sich die Vereinigung der kommunalen Arbeitergeberverbände (VKA) und die Gewerkschaften am Donnerstag nach ergebnislosen nächtlichen Verhandlungen in Berlin. Angesichts der Friedenspflicht während der Schlichtung müssen die Streiks ab Sonntag ausgesetzt werden, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mitteilte.
Auch den Kitastreik wird Bsirske nur schwer als Erfolgsgeschichte verkaufen können. Zwar dürfte es hier immerhin ein Ergebnis geben – aber es wird meilenweit von dem entfernt sein, was Verdi eigentlich durchsetzen wollte. Denn so wirkungsvoll der Streik zum Leidwesen der betroffenen Eltern auch ist: Der Druck auf die Gegenseite hält sich naturgemäß in Grenzen, wenn der Arbeitgeber durch einen Ausstand nicht höhere Kosten hat, sondern Geld spart. So wird die Gewerkschaft gezwungen sein, etwas als Erfolg zu verkaufen, was keiner ist. Entsprechend groß wird die Enttäuschung bei den so engagierten Erzieherinnen, Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen sein.
Verdi braucht eine selbstkritische Strategiediskussion. Alles gehört auf den Prüfstand, nicht zuletzt die hierarchisch-autoritäre Grundstruktur. Solange die Gewerkschaftsspitze ihre Mitglieder als willenlose Masse begreift, die von oben manövriert werden kann, wird der Schrumpfungsprozess weitergehen. Anzeichen in diese Richtung sind allerdings nicht zu erkennen, wie Bsirskes unsäglicher Pro-Kohle-Kurs zeigt. Als einzigem Grünen an der Spitze einer DGB-Gewerkschaft müsste er eigentlich wissen: Nicht nur verlorene Tarifkämpfe kosten Mitglieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind