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Kommentar Türkisches ParlamentAbmarsch in den totalitären Staat

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten ist der nächste Schritt in Richtung Diktatur. Für Oppositionelle und Kurden wird es noch schlimmer.

Nächster Schritt Präsidialdiktatur? Foto: reuters

D ie Türkei ist dabei, sich Schritt für Schritt zu einem totalitären Staat zu entwickeln. Die Entscheidung zur Aufhebung der Immunität von einem Viertel der Abgeordneten, darunter fast alle Parlamentarier der wichtigsten Oppositionspartei, der kurdisch-linken HDP, macht das Parlament endgültig zu einem willfährigen Instrument von Präsident Erdogan.

Zwar ist die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer Präsidialverfassung formal noch nicht beschlossen, doch de facto ist Erdogan diesem Ziel wieder einen Schritt nähergekommen. Ohne die HDP steht ihm im Parlament nur noch eine völlig zerstrittene rechtsnationalistische MHP und eine desorientierte sozialdemokratisch-kemalistsche CHP gegenüber.

Dieses Parlament wird einer neuen Verfassung, durch die die parlamentarische Demokratie abgeschafft und in eine Ein-Mann-Diktatur umgewandelt wird, nicht mehr viel entgegensetzen.

Bis es endgültig soweit ist, hat Erdogan innerhalb seiner Partei und der Regierung schon einmal dafür gesorgt, dass alle Befehlsstränge direkt zu ihm führen. Ahmet Davutoglu war der letzte Ministerpräsident, der sich noch einige wenige eigene Initiativen zugetraut hat, doch seit Erdogan ihn geschasst und durch den devoten Binali Yildirim ersetzt hat, gibt es niemanden mehr, der dem Präsidenten (in der Partei nur der Führer genannt) in irgendeiner Weise widersprechen wird. Ein Führer, eine Partei, ein Volk, die aus der Vergangenheit bekannten Parolen drohen neue Wirklichkeit zu werden.

Wer sich in diesem Volk Erdogans nicht wiederfindet, wird in Zukunft nicht mehr viel zu lachen haben. An die Adresse des säkularen Teils der türkischen Gesellschaft sandte der Bruder des zukünftigen Premiers Binali Yildirim nach dessen Nominierung eine klare Botschaft: Ihr könnt ab jetzt den Mund halten und euch verstecken oder auswandern.

An die Adresse der widerständigen Kurden, und damit sind nicht nur die Hardcore-Kämpfer der PKK gemeint, gibt es eine andere Botschaft: Wir werden die Gewalt soweit eskalieren, bis ihr alle tot seid. Je mehr Tote es dabei gibt, umso stärken werden Extremismus und Fanatismus auf beiden Seiten. Damit wird sich Erdogan seine Gefolgschaft für lange Zeit sichern.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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12 Kommentare

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  • Der SWP-Chef Volker Perthes nutzt gerade die Gelegenheit, als Syrien-Unterhändler für de Mistura seine vollkommene Inkompetenz zu demonstrieren.

    Vielleicht reift im Auswärtigen Amt dann ja doch irgendwann einmal die Erkenntnis, daß man mit den falschen Beratern am Start ist. Der Türkei-Deal war leider nicht der einzige diplomatische Griff in den Goldeimer.

    • @jhwh:

      Sollte eine Antwort auf den guten Kommentar von Herrn Gutsche sein.

  • Erstens: Erdogan ist Präsident eines Staates, der nicht in der EU ist und somit auch nicht die demokratischen Spielregeln der EU für die Türkei billigen muss.

    Zweitens:Die Mehrheit des Volkes ist mit der Politik Erdogans einverstanden. Mit welcher westlichen Arroganz kommen wir dazu, Volkes Wille anzuzweifeln?

    Drittens: Ich glaube nicht, dass die Vertreter der deutschen Medien die Rolle der HDP und ihre mögliche Nähe zur PKK hinreichend analysieren können oder wollen.

    Viertens: Die Mehrheit des Volkes will einen nationalistischen und religiös geprägten Staat, der überwiegende Teil des türkischen Volkes will vielleicht gar nicht säkular sein. Das sollten wir respektieren.

     

    Ein bißchen mehr Respekt dem türkischen Volk gegenüber wäre sehr wohl angebracht.

    Ein

     

     

    Ich bin bestimmt kein Anhänger von Erdogan,

    • @Hans-Georg Breuer:

      Gut, aber wir sollen die kranken und nicht ausgebildeten Syrer aufnehmen und die Ärzte und Ingenieure bleiben in der Türkei und dürfen nicht ausreisen? Und Mexiko bildet mehr Ingenieure aus als Deutschland! So einen Deal können wir nicht akzeptieren. Erdogan behandelt uns wie die letzten Deppen!

  • Il faut appeler un chat un chat

     

    Der Präsident des Europa-Parlaments Martin Schulz nannte das Erdogan-Regime kürzöich eine „Ein-Mann-Herrschaft“. Mit diesem Euphemismus will er es wohl diplomatisch vermeiden, eine Katze auch eine Katze zu nennen, wie man in Frankreich sagt. Vergleichbare Verhältnisse anderswo würde man unverhohlen als "Diktatur" bezeichnen, was aber im Falle der Türkei gegenwärtig ebenso unschicklich wäre wie den Genozid an den Armeniern beim Namen zu nennen, denn schließlich hat sich die EU gerade in eine Sackgasse diplomatischer Erpreßbarkeit begeben, ein Meisterstück, das in der Geschichte der Diplomatie einen Ehrenplatz verdient. Das Erdogan-Regime wird die EU erst dann aus dem flüchtlingspolitischen Würgegriff entlassen, wenn die Voll-Mitgliedschaft der Türkei perfekt ist. Dann könnten wir wohl den ersten Diktator im freiheitlich-demokratischen usw. Staatenbündnis Europas begrüßen.

     

    Aber wie das Beispiel Weißrußland beweist, dessen Langzeit-Präsident Lukaschenka früher das rhetorische Etikett „der letzte Diktator Europas“ trug, ist die Zuschreibung „Diktatur“ weniger deskriptiv-semantischer als politisch-pragmatischer Art. Inzwischen ist dieses Pfui-Etikett für diese „Ein-Mann-Herrschaft“ in den Offical-Mind-Medien weitgehend verschwunden, nachdem es Signale aus Minsk gibt, zu Distanz auf Putin zu gehen.

     

    A propos Putin: Wir warten gespannt auf die Forderung der SWP, das Gründungsmitglied Türkei aus dem Europarat auszuschließen, so wie es deren Mitarbeiter Susan Stewart in der „Zeit“ kürzlich für Rußlands getan hat.

  • Das dramatische ist, dass dieser Schritt vorhersehbar - ja angekündigt war und dass es der nächste Schritt ebenfalls ist. Während Putin den Schein der Demokratie wahrt und "nur" dafür sorgt, dass seine Gegner verschwinden, bevor sie eine Chance haben, propagiert Erdogan ganz offen den Übergang zur Diktatur und zum Völkermord. Wenn Merkel hier so tut, als ob es sich dabei um innenpolitische Details handeln würde, macht sie sich mitschuldig. Mitschuldig unter anderem an Millionen Türken und Kurden, die künftig - visafrei oder nicht - flüchten müssen.

  • ÖZ ÖZ ÖZALAN...,

  • 3G
    33731 (Profil gelöscht)

    konsequent. das ist wohin merkel und erdogan steuern. weis nicht wisso man das irgendwo fernab verortet wenn das europäishe agenda ist.

  • Und Frau Merkel muss ruhig bleiben wegen den Flüchtlingen. Nur nicht Erdogan provozieren, ohne seine Organisationen, die hierzulande ungestraft das Massaker an den Armeniern leugnen.

  • Die logische Antwort wäre ein sofortiger Ausschluss der Türkei aus der NATO. Leider kann Obama, viellleicht sogar wider besseren Wissens das nicht. Meine Prognose: In fünf bis zehn Jahren schließen sich Putin und der Pascha vom Bosborus zusammen und der Westen staunt.

  • Jetzt müssen EU + BRD wohl mal Farbe bekennen. Flüchtlingsabkommen hin oder her.

  • Erschreckend! Selbst in Ungarn gibt es das in dieser Form nicht. Frau Merkel: Tu was!!!