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Kommentar Türkische VerfassungsreformDas Undenkbare droht

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Alle jüngsten Manöver Erdogans zeigen vor allem eines: Seine Nerven liegen vor dem Referendum zur Verfassungsänderung blank.

Ob Erdogan das „Evet“ noch so sicher ist? Foto: dpa

M it der am Montag in Deutschland beginnenden Abstimmung über eine Änderung der türkischen Verfassung hat der Countdown zur Zukunft der türkischen Demokratie begonnen. Die zuletzt noch laut gewordenen Spekulationen über eine Verschiebung oder Absage des Referendums dürften sich damit erledigt haben. Während in den letzten Tagen nun auch in Deutschland endlich das Neinlager etwas sichtbarer geworden ist, bleibt es in der Türkei selbst äußerst spannend.

Dabei ist ein interessanter Schwenk zu beobachten, der das ganze Dilemma der Erdoğan-Kampagne deutlich macht. Möglich geworden war der Erfolg Er­do­ğans bei der Abstimmung der neuen Verfassungsartikel im Parlament nur dadurch, dass die ultrarechte MHP sich der AKP angeschlossen hatte.

Doch während die MHP-Führung ihre Abgeordneten noch mühsam auf Linie bringen konnte, klappt das bei der Basis der Partei ganz und gar nicht. Laut Umfragen wird nur ein Drittel der MHP-Wähler mit Ja stimmen. Die AKP versucht deshalb jetzt wieder, kurdische Wähler auf ihre Seite zu ziehen, die sich wegen der Zusammenarbeit mit der MHP abgewandt hatten.

Die Kurden sollen es jetzt richten

Folglich durften überraschenderweise am 21. März landesweit Newroz-Feiern stattfinden. Die Polizei duldete sogar, dass in Diyarbakır wesentlich mehr Transparente mit dem Führer der verbotenen PKK, Abdullah Öcalan, geschwenkt wurden als auf der zuvor so heftig kritisierten Demo in Frankfurt.

Zum anderen versammelte Ministerpräsident Binali Yıldırım konservative und religiöse kurdische Führer um sich und versuchte sie mit Versprechungen für das Referendum zu ködern. Nun versucht Erdoğan sogar noch einmal aus dem Europa-Thema Funken zu schlagen, indem er ankündigte, später im Jahr das Volk darüber abstimmen zu lassen, ob die Türkei den EU-Beitritts-Prozess fortsetzen soll. Als wenn es dazu noch etwas abzustimmen gäbe, will er suggerieren, die ­Türkei könne der EU eine Lektion erteilen.

Erdoğan versucht nun sogar, aus dem Europa-Thema Funken zu schlagen

Doch alle diese Manöver zeigen nur eins: Bei Erdoğan liegen die Nerven blank. Was lange als undenkbar galt, rückt nun immer mehr in den Bereich des Denkbaren: In der entscheidenden Abstimmung seines Lebens könnte ­Erdoğan verlieren. Der große Führer würde seinen Nimbus verlieren.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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7 Kommentare

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  • Abstimmung verloren: na und?

    Warum nicht einfach drüber regieren, das macht Erdogan und die AKP doch sowieso schon.

  • Nachdem wir, das Volk der "Dichter und Denker" 1930 den Hitler gewählt haben, würde ich gern verstehen worüber die Türken ab heute abstimmen dürfen?

    Wer kann mir eine deutsche Übersetzung empfehlen (link oder den Text)? Bitte.

    Dann kann ich mir eine Meinung dazu bilden.

    Denn auch viele meiner Nachbarn kennen das deutsche Grundgesetz kaum und nutzen es wenig: Artikel 5 (1) GG?

  • "Zum anderen versammelte Ministerpräsident Binali Yıldırım konservative und religiöse kurdische Führer um sich und versuchte sie mit Versprechungen für das Referendum zu ködern."

     

    Welcher Kurde wird Erdogan noch unterstützen? Ein gemaltes Bild, auf dem die ganze Zerstörung im Südosten zu sehen war, brachte der Malerin 2 Jahre Haft. Ich sage nur Nusaybin - die Kurden, die Erdogan noch unterstützen müssen alles, wirklich alles ausblenden, um der AKP und Erdogan zu folgen. Wie viele Menschen wurden kürzlich wg. PKK-Mitgliedschaft verhaftet - 750? Das sind die Zahlen von einer Woche. Türkische Gefängnisse müssen aus allen Nähten platzen. Und wer sitzt dort in Haft ... Kurden. Und die meisten wahrscheinlich komplett unschuldig, wahrlos rausgesucht, damit diese Terrorherrschaft im Südosten nie zuende geht

    • @Andreas_2020:

      Vielleicht wählen ihn einfach alle, denen er irgendwelche Besserungen ihrer Situation verspricht...also auch Kurden, die er zurvor unterdrückt hat, die nungewinnen könnten. Oder aus Angst ihn wählen, weil es ihnen dann noch schlechter geht. Oder aus Opportunismus: wenn sie ihn wählen, wird es schon nicht so schlimm.

  • Garantiert eigentlich irgendwer dafür, dass es eine freie, gleiche und geheime Wahl gibt und dass die Auszählung korrekt abläuft? Die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende nicht das von Erdogan gewünschte Ergebnis verkündet wird, halte ich persönlich für gering.

     

    Ich bin einfach nur sehr traurig... die Wahrscheinlichkeit für dunkle Zeiten in der Türkei ist verdammt hoch... aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

    • @Co-Bold:

      Vielleicht lässt sich beantworten, ob internationale Wahlbeobachter vor Ort sind. Allerdings ist das nach dem Hickhack, den Erdogan sich mit der EU geliefert hat, nahezu ausgeschlossen. Wahrscheinlich ist er damit recht unbeobachtet. Oder taz?

       

      Ja, Co-Bold. Du hast wohl leider Recht.

  • Und wenn schon - dann wird wieder ein bewaffneter Konflikt provoziert und der Sultan kann sich wieder als Held der Nation darstellen. Dann kommt das zweite Referendum ....

     

    Angesichts der permanenten Propaganda (anders kann man es bei dem Inhalt nun wirklich nicht nennen) - die auf nahezu allen türikischen Medien in einem penetrant nervigen Wahlwerbespot zu sehen ist - und den religiös-naiven "einfachen" Menschenmassen, die dem Führer 2.0 einfach alles aus der Hand fressen, gehe ich entgegen den Prognosen sowieso leider davon aus, dass die Wahl zu seinem Gunsten ausgehen wird ...