Kommentar Rot-Rot-Grün in Berlin: Schaut auf diese Stadt
Die neue Koalition steht. Sie wird beweisen, wie linke Politik im Angesicht von Rechtspopulisten funktioniert: mit viel Haltung.
D ie rot-rot-grüne Koalition in Berlin steht. Erstmals wird es ein solches Dreierbündnis unter Führung der SPD geben. Das mag keine Sensation mehr sein, weil R2G ja auch in Thüringen fast schon zu geräuschlos regiert – wenn auch unter einem Ministerpräsidenten der Linkspartei. Dennoch hat die Koalition Bedeutung weit über das künftig rot-rot-grüne Rathaus hinaus. Denn sie setzt Maßstäbe. Auf dreifacher Ebene.
Zum Ersten hatten die Verhandlungen Modellcharakter für ein ähnliches Bündnis auf Bundesebene. Nicht der unter linken Streithähnen über Jahrzehnte gepflegte Zickenterror war tonangebend, sondern das Motto „Man muss auch gönnen können“. Weil niemand unüberschreitbare „rote Linien“ zog, kam auch niemand in Gefahr, das Gesicht zu verlieren. Ja, die Verhandlungen machten es sogar möglich, parteiinternen Streit zu überwinden – wovon vor allem die SPD profitierte.
Zum Zweiten zeigt das Koalitionstrio, wie weit sich linke Politik ändern muss, wenn einem die AfD im Nacken sitzt: nämlich gar nicht. Die Berliner knickten an keiner Stelle ein, um sich bei den angeblich besorgten Bürgern einzuschmeicheln, sondern zeigen Haltung und planen Verbesserungen in der Flüchtlingspolitik. Selbst einen weitgehenden Verzicht auf Abschiebungen haben sie sich auf die Fahne geschrieben.
Und das führt zum dritten und wichtigsten Punkt: Rot-Rot-Grün zeigt, dass ein Politikwechsel nach Wahlen nicht nur theoretisch denkbar ist – sondern praktisch machbar. Das beginnt mit dem hoch symbolischen Umbau des Boulevards Unter den Linden in eine autofreie Flaniermeile und endet damit, dass die stets im Ruch zu großer Nähe zur Bauwirtschaft stehende Berliner SPD erstmals das Stadtentwicklungsressort abgibt. Dieser Schritt weg vom Filz war unumgänglich, gerade in Zeiten wachsender Demokratieverdrossenheit.
Bisher steht das meiste nur auf dem Papier. Was Rot-Rot-Grün wirklich hinbekommt, ist offen. Aber es lohnt sich, genau hinzuschauen. Auf diese Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs